ESSSTÖRUNGEN

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GEDICHTE

Nina Heick. www.ninaheick.de


Die Hoffnung stirbt zuletzt

Regungslos am Boden liegend,
sachte in die Traumwelt wiegend,
denk ich an das letzte Jahr,
in dem ich so verzweifelt war.

Täglich mir ins Fleische ritzte,
Oft schon bis das Blute spritzte.
Häufig Kehle wund gespuckt,
Dafür selbst den Alk geschluckt.

Aus Kummer gern an Tod gedacht,
Am liebsten nie mehr aufgewacht.
Gesund sein hab ich mir geschworen,
Und dann doch den Mut verloren.

Jetzt sitz ich inner Klapse rum,
Red’ kein Wort und bleibe stumm.
Unwohl fühle ich mich hier,
Weil ich so viel an Zeit verlier.

Stecke fest und bin gefangen,
Kann nicht mal mehr hinausgelangen.
Will schnell fort und werde fliehen,
Mich dieser Anstalt fix entziehen.

Noch bin ich einsam und allein,
Aber bald werde ich in Freiheit sein.
Mutter, möcht’ dich nicht erneut verletzen,
Dich in solch Angst und Schrecken versetzen.

Werd’s besser machen als bisher,
Das Vergangene ist nun lange her.
Denn die Hoffnung, die stirbt zuletzt,
Hat mich zurück in Frieden versetzt.

LESEPROBEN

Nina Heick. www.ninaheick.de

Zum Thema „Essstörung“ (Bulimie)

Aus dem Roman „ZWEI HERZEN – Wer bin ich? Wer will ich sein?

Durchgeknallt

Die schlimmste Zeit meines Lebens war wohl die zwischen 2004 und 2006 – im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren.

Um die Essstörung vor meiner Mutter zu verbergen, schottete ich mich in meinem „Kinderzimmer“ ab und göbelte in Mülltüten.

Mir ist beim Kotzen der Nasenstecker innen Eimer gefallen. Fein inne Suppe rein. Ich war am Verzweifeln. Das Piercingloch habe ich erst seit Samstag. Es würde zuwachsen und ich will noch keinen Ring reinmachen, solange es nicht verheilt ist. Diesen schönen, schlichten Silberstecker besitze ich nur einmal, daher musste ich in dem Schleimkram rumwühlen, bis ich meine Hände eingesaut – mit festgesetzten Innereien unter den Fingernägeln, aber dafür das Piercing gerettet hatte. Ekelig, oder? Was soll’s. Hände gewaschen, Piercing desinfiziert – steckt friedlich im Nasenflügel!, steht in einem meiner Tagebücher.

Mama und ich hatten damals ein ganz grottiges Verhältnis zueinander. Ich beklaute sie ständig um Geld, um mir meine Fressattacken zu finanzieren. Natürlich konnte dies nicht unbemerkt bleiben und so gab’s deftig Ärger, wenn sie mich dabei erwischte. Wir stritten ohnehin oft, weil sie den ganzen Tag zu Hause verbrachte und rumnörgelte. Tu dies, tu das, warum hast du jenes noch nicht erledigt … Ihre Redereien von Klaas gingen mir auf die Nerven. Sie litt wohl stark unter der Trennung, weshalb sie ihre Unzufriedenheit auch mir gegenüber nicht bremste. Aber sie sprach nicht drüber. Sie fragte auch nicht nach – sie wollte oder konnte nicht verstehen, was mit mir los war. Ich wurde ausschließlich in die Schranken verwiesen, mich nicht immerzu im „Kinderzimmer“ einzuschließen, nicht so depressiv vor mich hin zu vegetieren und mich endlich mal zusammenzureißen. Wenn sie mich dabei ertappte, dass ich mit einer Bierfahne nach Hause kam, schiss sie mich zusammen. Dann wurde ich nur noch wütender und geriet in hysterische Rage. Einmal bin ich ihr gegenüber so ausgetickt wie selten. Vier- bis fünfmal brüllte ich: „Ich kann nicht mehr, ich hasse mein Leben“, schlug mit Fäusten auf den Esstisch im Wohnzimmer ein, sodass sich all meine Ringe an den Fingern verformten, fegte das Geschirr durch die Luft und warf den Vierbeiner laut scheppernd, mit voll Karacho um. Susi stand schockiert daneben; ihre Rufe, aufzuhören, habe ich ignoriert. Sie rannte in ihr Schlafzimmer und fing zu weinen an. Ich hasste sie, weil ich von ihr nicht bewertet werden wollte. Sie kritisierte, wenn ich ab- oder zugenommen oder mir zehn Scheiben Toast in den Mund gestopft hatte. Und ich hasste den Wald, die Wohnung und die Erinnerung an das Bauernhaus, das unmittelbar neben unserem stand. Davon, dass ich mich mindestens viermal am Tag übergab, mir mit Rasierklingen die Arme aufschnitt und die Schule schwänzte, ahnte sie nichts. Manchmal aß ich mehrere Tage nichts und musste allein von einem Schluck Cola light brechen, weil mein Körper es gewohnt war, nichts zu behalten. Meistens wurde ich ohnmächtig.

Ich verschwor mich gegen Gott, da ich mich von ihm ungerecht behandelt fühlte, und ritzte mir ein umgedrehtes Kreuz ins Fleisch.

Es ist 23 Uhr. Kein Schwein ist für mich da. Ich fühle mich so verdammt allein. Niemand kann mich heulen hören. Niemand merkt, dass ich mich wieder geschnitten habe. Der Schmerz auf meinem rechten Handgelenk sticht. Ich beobachte die flackernde Kerzenflamme des Grablichtes neben mir. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich habe solche Angst. Warum hilft mir denn keiner? Meine blöde Mutter kriegt aber auch gar nichts mit. Die dumme Kuh liegt im Bett und mault vor sich hin, weil ich eben zu ihr gesagt habe: ‚Hör auf, hier so rumzuscheißen!‘ Wutentbrannt isse dann die Treppe runtergetrampelt. Ich war total gereizt. Den ganzen Tag litt ich unter Migräne und diese Schlange hat nich’ ma’ ’nen Hauch an Verständnis. Die letzte Zeit ist sie nur noch zickig. Aber sie rückt ja nicht mit dem Thema raus. Was kann ich für ihre Probleme? Was macht sie mich so blöde an? Die Fotze kreischt durchs Haus – das kann man auch alles netter sagen. Ich bin labil genug, danke Mutter! Leck mich doch. Du weißt gar nichts. Einfach GAR NICHTS! Ritzen ist wie Fliegen. So schwerelos. Ich habe schon immer vom Fliegen geträumt. Fliegen wie ein Vogel. Loslaufen und abheben. Leicht sein wie eine Feder. Es gibt da diesen Film ‚Stigmata’. Die Hauptdarstellerin spielt so eine Schizophrene, die in ihrer Vorstellungskraft wie Jesus gekreuzigt wird. Manchmal könnte auch ich die Arme hochnehmen und mir ein Bild davon machen, wie ich am Kreuz hänge. Diese Schwerelosigkeit …

Und dann sollte Mama doch die ganze Wahrheit erfahren … Es war auf Mallorca. Für den Strand fand ich mich zu fett. Daher hing ich so häufig über der Kloschüssel, bis das Kotzen nicht mehr ging. Ich kratzte mir den Hals blutig, trank Laugenwasser und Pitú mit Ananassaft … und trotzdem. Ich wurde den Mist nicht los und war inzwischen vollkommen breit. Dann verschluckte ich mich an meinem eigenen Gesöff und kugelte wie ein Käfer auf dem Rücken, weil ich kaum noch Luft bekam. Ich dachte, ich müsste sterben, und schrie nach Susi, die auf der Stelle angerast kam. Völlig panisch steckten wir mir gemeinsam den Finger in den Hals, aber es nützte wenig. Sie führte mich stützend in ihr Schlafzimmer und streichelte meinen Kopf. Lallend sprudelte die Albtraumstory aus mir heraus; sie flennte heftig, als sie die blutverkrusteten Wunden auf meiner Haut sah.

Nach dem Urlaub kam ich zu einer analytischen Psychotherapeutin und wurde kurz darauf in einer Klinik untergebracht, in der ich mir wie im Knast vorkam. Dort wurde festgestellt, dass ich an dem Mallory-Weiss-Syndrom leiden würde. Das heißt auf Deutsch: Der Übergang von der Speiseröhre in den Magen war gerissen. Das führte bei mir dazu, dass ich Blut spuckte, und das ist lebensbedrohlich. Außerdem zuckten meine Muskeln krass wegen Magnesiummangels.

Der erste Krankenhausaufenthalt war die Hölle. Es galten Ausgangssperre, Besucher- und Handyverbot. Die Tatsache, von der Außenwelt abgeschottet zu sein, machte mich vollkommen verrückt. Und ich meine „verrückt“.

Man wurde zu sechs Mahlzeiten verdonnert und wer diese nicht aufaß, wurde bestraft. Ich hatte die Angewohnheit, den Puffel (also das Innere) aus dem Brötchen zu zupfen.

„Vici, hör auf damit, das Brötchen zu rupfen“, ermahnte mich die Pflegerin. Ich schnauzte sie an, dass ich das Brötchen sonst nicht essen würde, und rupfte weiter. „Victoria, hör auf damit, das Brötchen zu rupfen, sonst kannst du den Raum verlassen.“ Ich stand auf und verließ den Raum.

Nicht mal Marmelade durfte mit Käse kombiniert werden. Das wurde sofort als „essgestörtes Verhalten“ abgestempelt. Ich beklagte mich über Bauchschmerzen und bat darum, auf eine Lebensmittelallergie getestet zu werden. Das sei Einbildung, hieß es.

Ich war die einzige Bulimikerin und somit die „Dickste“ von allen. Das Essen wurde sich gegenseitig in den Mund geguckt; beim Verzehr fingen die Magersüchtigen zu wimmern an; 38 Kilo leichte Mädchen schlichen am Tropf durch die Gänge. Weil ich einmal nicht rechtzeitig zur Zwischenmahlzeit erschien, wurde ich zu einer Woche Tischdienst verdonnert. Die Betreuerin wollte daraufhin mit mir reden, in meinen Augen gab’s jedoch nichts zu reden. Sie ließ nicht locker und forderte mich weiterhin zum Gespräch auf. Ich blieb stumm und zerkratzte mir die Unterarme. Dann stand sie auf und kam mir näher. Plötzlich lief ich fuchsteufelswild und kreischend aus dem Speisesaal, schlug gegen die Wände und warf mich weinend auf mein Bett. Ich konnte weder eine Rasierklinge noch eine Nagelfeile finden. Daher griff ich einen roten Edding und schrieb mir „Ich will tot sein“ auf den Oberschenkel.

Irgendwann verweigerte ich die Mahlzeiten, weil ich aus der Klinik rausgeschmissen werden wollte, und das passierte letztendlich auch.


Die Hoffnung stirbt zuletzt

Regungslos am Boden liegend,
sachte in die Traumwelt wiegend,
denk ich an das letzte Jahr,
in dem ich so verzweifelt war.

Täglich mir ins Fleische ritzte,
Oft schon bis das Blute spritzte.
Häufig Kehle wund gespuckt,
Dafür selbst den Alk geschluckt.

Aus Kummer gern an Tod gedacht,
Am liebsten nie mehr aufgewacht.
Gesund sein hab ich mir geschworen,
Und dann doch den Mut verloren.

Jetzt sitz ich inner Klapse rum,
Red’ kein Wort und bleibe stumm.
Unwohl fühle ich mich hier,
Weil ich so viel an Zeit verlier.

Stecke fest und bin gefangen,
Kann nicht mal mehr hinausgelangen.
Will schnell fort und werde fliehen,
Mich dieser Anstalt fix entziehen.

Noch bin ich einsam und allein,
Aber bald werde ich in Freiheit sein.
Mutter, möcht’ dich nicht erneut verletzen,
Dich in solch Angst und Schrecken versetzen.

Werd’s besser machen als bisher,
Das Vergangene ist nun lange her.
Denn die Hoffnung, die stirbt zuletzt,
Hat mich zurück in Frieden versetzt.


Der zweite Klinikaufenthalt zwei Jahre später in einem anderen Krankenhaus (in das auch Lenn eingewiesen wurde) war nicht ganz so inhuman. Drei Monate habe ich es dort ausgehalten. Die Therapieangebote waren umfangreich und schafften viel Klärung über meine Krankheit. Geheilt werden konnte sie jedoch nicht. Als ich wieder zu Hause war, sehnte ich mich nach der Klinik, in der ich mich wie in einer kleinen Familie gefühlt hatte. Ich mochte gar nicht bei Mama sein. Ständig fragte sie, wie es mit der Bulimie laufen würde. Ich fühlte mich beobachtet und kontrolliert. Eines Morgens saßen wir am Frühstückstisch. Ich sah ihr beim Essen zu, während ich selbst nichts aß. Alles war wie vorher. Die gleichen Gespräche, die gleiche Haltung, die gleichen Gesten, das gleiche Leben. Wir stritten, fielen uns heulend in die Arme und fanden, dass wir uns eigentlich doch ganz lieb hätten. Ich konnte ihre Sorgen natürlich verstehen.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, frage ich mich, wie durchgeknallt ich eigentlich war. Ich kann Mama keine Vorwürfe machen. Sie wusste es einfach nicht besser. Die wenigsten Mütter sind in der Lage zu sehen, was schiefläuft, wenn sie es selbst nicht am eigenen Körper erlebt haben. Schließlich geht es bei der Essstörung ja auch darum, diese bestmöglich geheim zu halten. Daher bitte ich all diese Mamas auf der Welt: Schaut genau hin! Macht keine Vorwürfe, das verschlimmert alles und führt nur dazu, dass sich mehr verschlossen wird. Fragt nach. Vorsichtig. Und zieht nötigenfalls eine Therapie hinzu.

Jede psychische Veränderung eines Kindes hat irgendwelche Hintergründe. In der Pubertät sind diese ganz normal, aber über diese hinaus sollte man sich Gedanken machen. Verschlossenheit, Leistungsverschlechterung in der Schule, Gewalt, Diebstahl … Jede Form von abweichendem Verhalten kann, aber muss nicht, ein Zeichen für Probleme sein. Seht nicht weg, beschönigt nicht, nur um den Ruf der Familie nicht zu gefährden oder Konflikten aus dem Weg zu gehen. Denn in erster Linie müssen die Kinder mit den Folgen leben. Die Kinder sind euer Produkt! Eine Therapie anzugehen, ist nichts Verwerfliches.

Buchrezension von Rita, 55, suchtbelastet (Magersucht, Alkohol)

Antonia C. Wesseling. Wie viel wiegt mein Leben? Warum wir bei Magersucht über den Tellerrand schauen müssen. Edenbooks Hamburg 2020 

Ein Thriller. Für mich. Ich habe das Buch fast atemlos, in einem Zug gelesen. Eine Achterbahn von Anspannung und Erleichterung, denn eine mir gute bekannte ständige Bedrohung durchzieht das gesamte Buch (siehe Suchtlebenslauf).

Antonia, die Protagonistin dieses Psychothrillers ist Ermittlungslaie. „Als die Magersucht sich in mein Leben schlich, besuchte ich gerade die neunte Klasse eines Düsseldorfer Gymnasiums“1. Ein Teenie, heranwachsend, sensibel, intelligent und auch tragik-komisch. Die Täter:in heißt Magersucht, ihr Agieren wird von Jahr zu Jahr perfider, kontrollierender, aggressiver, lebensbedrohlich. Antonia kämpft mit zunehmender tiefer Verzweiflung gegen die seelischen und physischen Gewalteinwirkungen dieses Sucht-Psychos. 

Antonia ist nicht alleine in ihrem Kampf. Die Eltern, ihre Schwester Victoria, die engen Freundinnen, ihre Bezugstherapeut:innen helfen, soweit sie vermögen. Sie alle kommen in Einblenden zu Wort. Vor allem ihre Familie in all ihrer Ratlosigkeit, Ohnmacht, Verzweiflung Genervtheit und auch Wut. Doch Antonia weiß, dass letztlich nur sie aus eigener Kraft siegen kann. Sie geht also den Weg aller suchtbelastenden Menschen: durch psychiatrische Einrichtungen, Therapie und Selbstreflexion. So lernt sie wie eine Ermittlerin all ihre Motive kennen. 

Antonia hasst den Standardspruch ihres Therapeuten: „Das Essen selbst ist nicht Dein Problem“ (…) Wenn ich Dir rate: Geh nach Hause und esse ab sofort regelmäßig – machst du es dann?“, sagte er. Mit dieser Frage hatte er mich. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass es überhaupt nicht darum ging, dass ich nicht essen konnte, sondern darum, dass ein Teil von mir nicht essen wollte. Die meisten Menschen können vermutlich nicht verstehen, warum Betroffene an ihrer Krankheit festhalten. Für Außenstehende sind nur die negativen Seiten der Essstörung sichtbar: die fast verhungerten Körper, die ausdruckslosen Gesichter und der Verzicht, dem sich die Betroffenen Tag für Tag unterziehen. Gesunde Menschen fragen sich, warum Essgestörte trotz Todesgefahr an dieser Qual festhalten.“2 

Nein, Antonia ist kein Opfer und die Magersucht ist auch nicht Täter:in. Es geht um eine perfide Beziehung des Geben und Nehmens. „Solange unterdrückte Ängste die Essstörung herausfordern, ist es unmöglich, gesund zu werden. Man muss aufhören, gegen die Magersucht zu kämpfen. (…) Denn Fakt ist: Niemand hat mich festgehalten, wenn ich essen wollte, niemand hat mich gezwungen, mich nachts mindestens dreimal auf die Waage zu stellen.“3

Im klassischen Thriller geht es darum, einen Mord zu verhindern, so Jussi Adler Olsen in einem Interview. Genau das schafft Antonia, durch zermürbende Jahre der Selbstzweifel und -reflexion, durch nervenaufreibende Therapien. Vor allem aber durch ihren unendlichen Mut und ihre geistige Kraft, die eigenen Motive zu entlarven. Glaubenssatz für Glaubenssatz entzaubernd begibt sie sich auf den Weg der Heilung. Und sie ist noch unterwegs. 

Antonia ist für mich eine Heldin.

Kein Wunder, dass dieses Buch auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand.

1Antonia C. Wesseling. Wie viel wiegt mein Leben? Warum wir bei Magersucht über den Tellerrand schauen müssen. Edenbooks Hamburg 2020, S.15
2ebda. S. 104
3ebda. S. 104

NEBLIGER TAG

Steffi, 21

Neuer Tag. 6:45 Uhr

Erstmal nackt Ausziehen, frieren und mit Gänsehaut in den Spiegel starren – wie ist die Lage, ist sie erträglich oder bin ich über Nacht fett geworden? Es geht so gerade, bloß nicht dicker werden. Wiege 38 kg.

So, schnell duschen, um anschließend endlich diverse Schichten an Klamotten anzuziehen – was eine Eiseskälte. Viel Wasser trinken und viel schwarzen Kaffee. Frühstück gibt es noch nicht, erst in der ersten Pause. Mein Jahrespraktikum bei einem Möbel-Restaurator ist ziemlich anstrengend, was mir auch gut gefällt. Bei der ganzen Plackerei kann ich mich ertüchtigen und spüren. Gerne übernehme ich auch Männerarbeiten, zucke zumindest nicht mit der Wimper dabei. In der Pause gehe ich mit meinem Brötchen um den Block, trinke noch einen Kaffee und weiter geht es. Ich arbeite zur Zeit an einem kleinen 8-eckigen Kirschbaumtisch, zum ersten Mal darf ich mit Schellack-Politur arbeiten. Ich bin begeistert und ehrgeizig. Heute macht der Restaurator früher zu, ich habe im Vorfeld schon beschlossen, dann sofort schwimmen zu gehen. Vielleicht schaffe ich heute 40 Bahnen. Am schlimmsten ist der Augenblick, wenn ich mich ins recht kühle Schwimmerbecken gleiten lasse. Die Kälte greift mich extrem an. Dann brauche ich ca. 5 hektische Bahnen, um halbwegs warm zu werden. Nach meinen 42 Bahnen fühle ich mich ganz gut und esse meine Banane. Ist auch verdient. Dann gehe ich noch einkaufen, räume zu Hause auf, esse Spinat und treffe mich mit 3 Freunden. Später Nachmittag. Das Kaffeetrinken artet zum Biertrinken aus. Ganz schön viele Kalorien, aber verzichten möchte ich auch nicht. Dann gehe ich halt morgen wieder schwimmen, esse noch weniger und trinke keinen Alkohol. Das geistert mir durch den Kopf, als auch schon das nächste Bier vor mir steht. Prost.

SUCHTLEBENSLÄUFE

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BRIEFE

Nina Heick. www.ninaheick.de

Aus dem Roman „REISE OHNE ZIEL – Wo bin ich? Wo will ich hin?
Ein Brief an sich selbst.

Liebe Vici,

wenn ich versuche, mich zu erinnern, wer du früher warst, dann sehe ich meistens eine Fünfjährige vor mir. Ein kleines, zartes Mädchen mit goldblondem, wuscheligem Pagenkopf, großen, dunklen Rehaugen und dickem Schmollmund. Ein Mädchen, das sich in jedem Schaufenster betrachtet – seine bunten Schleifen, weißen Rüschensöckchen und schwarzen Lackschuhe bewundernd. Ein Mädchen, das ununterbrochen plappern, singen, aber auch schweigen und sich mit sich selbst beschäftigen kann. Ein Mädchen, das von Arielle schwärmt, mit Puppen und Barbies spielt. Ein Mädchen, das sich gern in die Arme schmiegt. Ein Mädchen, das sich lachend durchkitzeln lässt. Ein Mädchen, das für seine gemalten Bilder gelobt werden will. Ein Mädchen, das vorwurfsfrei, liebevoll von seinem leiblichen, alkoholisierten Papa erzählt. Ein Mädchen, das unbedarft nach dem Verbleib seiner Erzeugerin fragt. Ein Mädchen, das sich freut, wenn der strenge Vater die Zuneigung seiner Tochter erwidern kann. Ein Mädchen, das einsam ist, wenn sich seine Adoptiveltern streiten. Ein Mädchen, das schreit, wenn Mama das Haus verlässt. Ein Mädchen, das nachts in die Küche zum Kühlschrank tappst. Ein Mädchen, das schluchzt, weil es Angst hat, im Dunkeln allein gelassen zu werden. Ein Mädchen, das sich selbst beruhigend im Bett vor und zurück wippt. Ein Mädchen, das zum Vollmond hochschaut, in dem es ein trauriges Gesicht erkennt. Ein Mädchen, das in seinen Albträumen von Männern verfolgt wird, die ihm schlimme Dinge antun wollen.

Wenn ich versuche, mich zu erinnern, wie du als Neunjährige warst, dann sehe ich dich mit knapp taillenlangen Haaren vor mir. Ein Kind, das sich in jedem Schaufenster betrachtet – seine Turnhemden, Shorts oder Latzhosen und Caps cool findend. Ein Kind, dessen Knie vom Fallen beim Herumtollen ständig aufgeschürft sind. Ein Kind, das Legosteine aufeinanderstapelt und reitet. Ein Kind, das ganz vernarrt in Tiere ist, sich bei seinen Hunden ankuschelt. Ein Kind, das sich Rollenspiele ausdenkt, in denen es sich verkleiden, jemand anderes sein kann. Ein Kind, das so stark und mutig sein möchte wie Pipi Langstrumpf. Ein Kind, das sich wie sein Idol Zöpfe flechtet, Sommersprossen aufmalt und probiert, Stahlnägel zu zerkauen. Ein Kind, das sich eine beste Freundin wünscht und versucht, sich durch das Bestehen von Mutproben beliebt zu machen. Ein Kind, das von Jungs, in die es sich verguckt, geärgert und von seinen neidischen Schulkameradinnen gehänselt, verprügelt und Heulsuse genannt wird. Ein Kind, das nicht versteht, warum sein Vater, um dessen Liebe es ringt, so wütend auf die Mutti ist. Ein Kind, das ihn in diesen Momenten mit König Haggard aus „Das letzte Einhorn“ vergleicht. Ein Kind, das – von Daddys aggressiver Lautstärke eingeschüchtert – sein Abendessen unangerührt stehen lässt und mit Magenschmerzen in sein Zimmer rennt. Ein Kind, das von seiner bekümmerten Mama, die ihm folgt, getröstet und in den Schlaf gestreichelt wird.

Wenn ich versuche, mich zu erinnern, wie du als Teenager warst, dann sehe ich eine Zwölf-, Dreizehnjährige vor mir. Einen schlanken Teenager mit dunkelblondem Bubikopf, Pickeln im Gesicht, schmalem Oberkörper und einem heranwachsenden, winzigen Busen. Ein Teenager, der sich in jedem Schaufenster betrachtet – seine Boxershorts und Baggy Pants oder Jeansröcke und Glitterlippen abwertend. Ein Teenager, der auf der Suche nach dem passenden Styling ist. Ein Teenager, der die BRAVO liest, sich an Popstars misst und eines Tages als Sängerin groß rauskommen will. Ein Teenager, der von seinem abweisenden Vati immerzu kritisiert wird. Ein Teenager, dem man eintrichtert, welch hohe Bedeutung es hat, nicht dick zu werden. Ein Teenager, der sich auf die Waage stellt, Sit-ups und Nulldiäten macht. Ein Teenager, dem es nach wie vor kaum gelingt, freundschaftliche Kontakte zu knüpfen. Ein Teenager, der sich für Halbstarke interessiert, zugleich genervt von ihnen ist. Ein Teenager, der seine sich trennenden Eltern verachtet und ihnen mit Distanz begegnet. Ein Teenager, der die Zärtlichkeit seiner Mutter abwehrt. Ein Teenager, dem der Kummer Bauchschmerzen bereitet. Ein Teenager, der ernster wird und nicht flennt, um keine Heulsuse zu sein. Ein Teenager, der bei laufendem Wasserhahn ins Waschbecken spuckt.

Wenn ich versuche, mich zu erinnern, wie du als Sechzehnjährige warst, dann sehe ich dich mit unterschiedlichsten Frisuren, in Spitzencorsagen zu schwarzen, durchlöcherten Ballett-Tutus und lila geringelten Strumpfhosen oder in pelligen Netzshirts zu Lackröcken, Strapsen und Springerstiefeln vor mir. Ein Mädchen, das sich in jedem Schaufenster betrachtet – argwöhnisch das Häuchlein Fett an seinem Körper anfassend. Ein Mädchen, dem das Lachen gänzlich vergeht. Ein Mädchen, das die Schule schwänzt und sich isoliert. Ein Mädchen, das sich gegen die Forderungen seines Vaters stellt. Ein Mädchen, das seiner Mom für Alkohol und Fressattacken Geld klaut. Ein Mädchen, in dessen Zimmer sich die verheimlichten Kotztüten stapeln. Ein Mädchen, das sich betrunken kreativ entfaltet, von einer Zukunft als Künstlerin träumt und Tagebuch schreibt. Ein Mädchen, das sein Leid, an das es sich gewöhnt hat und gegen das es inzwischen abgehärtet ist, nicht spüren kann. Ein Mädchen, das sich selbst verletzt und Blut erbricht. Ein Mädchen, das sich mit Sicherheitsnadeln Piercings sticht. Ein Mädchen, das sich aktfotografieren, fesseln, kratzen und heißen Kerzenwachs auf die Haut gießen lässt. Ein Mädchen, dem durchs Hungern oft der Kreislauf versagt. Ein Mädchen, das wegen Migräne am Tropf hängt und per Infusion Kortison verabreicht bekommt.

Wenn ich versuche, mich zu erinnern, wie du als Neunzehnjährige warst, dann sehe ich dich an der Seite wechselnder Partner und Partnerinnen vor mir. Eine junge Frau, die es meidet, sich im Schaufenster zu betrachten. Eine junge Frau, die sich tätowieren ließ. Eine junge Frau, die einen großen Freundeskreis hat, der sie bewundert. Eine junge Frau, die sich nicht binden und treu sein will. Eine junge Frau, die besoffen wahllos jeden abknutscht und ins Bett schleift, den sie in die Finger kriegt. Eine junge Frau, die Nähe über Sex hinaus schwer erträgt. Eine junge Frau, die Menschen kränkt, wie sie einst gekränkt wurde. Eine junge Frau, die es hin und wieder genießt, auf wöchentlichen Industrialpartys im Mittelpunkt zu stehen. Eine junge Frau, die unter Drogeneinfluss auf Bühnen, Tischen und in Käfigen tanzt. Eine junge Frau, die sich für Swingerclubs und Toys interessiert. Eine junge Frau, die das Erlebte aufrollt. Eine junge Frau, die im Chaos ihrer Wohnung versinkt. Eine junge Frau, die ihre Gefühle und ihr inneres Kind ironisiert. Eine junge Frau, die Zigaretten auf ihren Handgelenken ausdrückt. Eine junge Frau, die sich ihre Fäuste an Mauern zerschmettert.

Wenn ich versuche, mich zu erinnern, wie du mit Mitte zwanzig warst, dann sehe ich dich dürr und abgespannt vor mir. Eine Erwachsene, die sich in jedem Schaufenster betrachtet – Gefallen an ihren zählbaren Rippen findend. Eine Erwachsene, die der Alltag überfordert. Eine Erwachsene, die unter Existenzängsten und Panikattacken leidet. Eine Erwachsene, die einen Ordnungszwang entwickelt. Eine Erwachsene, die Rat bei ihrer geliebten Mama sucht. Eine Erwachsene, die ihre Talente, in die sie nicht mehr vertraut, vernachlässigt. Eine Erwachsene, die sich nach Beziehungsenttäuschungen mit One-Night-Stands ablenkt. Eine Erwachsene, die mit dem Ritzen, Verbrennen und Schlagen aufgehört hat. Eine Erwachsene, die ihren Krankheiten den Kampf ansagen möchte. Eine Erwachsene, die wieder zu schreiben anfängt – im Wunsch, sich selbst zu reflektieren und verstehen zu lernen. Eine Erwachsene, die ahnt, dass sie nicht länger bindungsgestört sein will. Eine Erwachsene, der Loyalität und Zuverlässigkeit zunehmend wichtiger werden. Eine Erwachsene, die den Mut hat, ihre ursprüngliche Berufswahl zu überdenken. Eine Erwachsene, die sich durch das Fachabitur und ein zweites Studium beißt.

Wenn ich mir vorstelle, wer du heute bist, dann sehe ich eine Zweiunddreißigjährige vor mir. Eine Frau, die sich nicht in jedem Schaufenster betrachten muss – zufriedener mit ihrem äußeren Erscheinungsbild. Eine Frau, die nicht zum Ziel hat, mager und rundum perfekt zu sein. Eine Frau, die mal auf Salatblätter und exzessives Training im Fitnessstudio verzichten kann. Eine Frau, die zur Selbstbestätigung weder regelmäßiges Feiern noch extravagante Kleider braucht. Eine Frau, der Normalität, Sicherheit und Nähe mehr bedeuten als exotische, kurzlebige Sexabenteuer. Eine Frau, die sich danach sehnt, lieben zu dürfen, geliebt zu werden. Eine Frau, die ihre Stärken und Schwächen kennt, sie kommuniziert und seltener für sich behält. Eine Frau, die sich mit ihren Gemütslagen auseinandersetzt, sie zulässt, zu ihnen steht. Eine Frau, die dabei ist, in sich anzukommen, auch wenn sie sich gelegentlich immer noch verurteilt. Eine Frau, die beginnt, sich von ihrer Vergangenheit und den damit verbundenen Selbstschädigungsmustern zu lösen. Eine Frau, die nicht nur im Job Tapferkeit beweist.

Ich war dir keine, dich beschützende, bedingungslos liebende, gute Mutter. Und ich war dir auch kein, dich beschützender, bedingungslos liebender, guter Vater. Denn ich habe dir nicht zugehört. Dir nicht die Beachtung geschenkt, die du gebraucht hättest. Ich bin gegangen, wie Christina ging. Ich ließ dich verwahrlosen, wie Lenn es tat. Ich machte dich sorgenvoll, bedürftig und vorsichtig wie Susi. Und ich verbot dir wie Klaas, betrübt, aufmüpfig oder erbost zu sein. Stattdessen bürdete ich dir das Trachten nach Grandiosität auf, das dich, wenn du meinen Ansprüchen nicht gerecht werden konntest, in die Rebellion, Verzweiflung und Depression stieß. Ich verwehrte dir deine Selbstannahme, indem ich dir Menschen vorschlug, in denen du dich spiegeln solltest. Menschen, die dir aber überwiegend das Negative an dir spiegelten, nicht das Positive. Ich sah einfach dabei zu, wie du an Partnern den Blick für dich selbst verlorst. Ich stand gleichgültig neben dir, ignorierte deine Proteste und lynchte dich zusätzlich. Ich warnte dich nicht vor dem Verderben, in das du dich stürzest. Ich verhinderte nicht, dass du deine psychische, teils auch physische Gesundheit demoliertest, gewöhnte dir Nikotin- und Drogenmissbrauch an. Das ist unverzeihlich. Und doch bitte ich dich aus tiefstem Herzen um Entschuldigung.

Es mag sein, dass du phasenweise tatsächlich den „einfacheren“ Weg gegangen bist. Damit meine ich die Flucht vor deinen Gefühlen. Ein ganz normaler, menschlicher, instinktgesteuerter Prozess.

Trotz meines Versagens bist du so selbstständig geworden, erkennst die Zusammenhänge zwischen deiner Sozialisation und deinem eigenen Verhalten; was gut und was schlecht für dich ist. Das macht mich sehr stolz. Weil ich sicher bin, dass du in die richtige Richtung gehst. Auch wenn es für dich oft den Anschein hat, als laufest du zurück, befindest du dich bereits auf der Fährte der Stabilisierung und Selbstfindung – hie und da auf holprigen Umwegen. Lass dich von deinen Einbrüchen nicht beirren. Du hast die Fähigkeit, etwas aus ihnen mitzunehmen. Jeder noch so kleine, hinkende Schritt ist ein Schritt nach vorn. Ich begleite dich und werde dir bessere Eltern sein. Und vielleicht übernimmst du eines Tages die Rolle der ideellen Mom, die ich dir gern gewesen wäre, aber nicht sein konnte. Hab Nachsicht. Vor allem mit dir. Ich glaub an dich.

In Liebe
Deine Victoria


NACHWORT
I took a deep breath and listened to the old brag of my heart. I am, I am, I am.(Sylvia Plath, „The Bell Jar“)