ALKOHOLSUCHT

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GEDICHTE

Marcel Altgeld, 44

Meer aus Tränen

Es liegt in mir,
das Meer aus Tränen.
Nördlich des Aquators,
am Zentralmassiv des Herzens.
Ich treibe schon zu lange dort,
durchgeschüttelt von heftigem Seegang.
Ich bin auf der Suche nach Land,
nach festem Boden unter den Füßen.
Zu oft die Segel neu gesetzt, zu oft in die
falsche Himmelsrichtung.
Kompasslos …
Ich bin müde vom Segel setzen,
müde vom rudern.
Doch ich gebe nicht auf, ich warte …
Auf die erste Möwe am Himmel,
die mir verspricht:
Land in Sicht!

Nina Heick. www.ninaheick.de

Abschied

Mein Leben lang hast du gefehlt,
Hab dich gesucht, an dich gedacht.
Deine letzten Tage waren gezählt,
Zu wenig miteinander Zeit verbracht.

Liebe hast du mir auf den Weg gegeben,
Dein Lächeln, Wärme und Menschlichkeit.
Trotzdem musst’ ich ohne dich leben,
Ab von trauriger Realität und Wahrheit.

Der Tod war greifbar, unglaublich nah,
Du hast nach ihm gegriffen, mich verlassen,
Als ich nichts als Hoffnung auf Gesundung sah.

So kurz wie du bei mir warst,
So schnell bist du fort.
Ohne ein Zeichen des Abschieds,
An einen mir unerreichbaren, fernen Ort.

Es ist vorbei mit Hoffen und Glauben,
Übrig bleiben die Sehnsucht, das Vermissen.
Tränen und Trauer, die meine Kräfte rauben,
Brutal wurdest du aus meinem Leben gerissen.

Wie soll ich den Gedanken ertragen,
Dich nie wirklich gehabt zu haben?
Wie soll ich die Erkenntnis besiegen,
Nie wieder in deinen Armen zu liegen?

Ich hatte so viele Fragen – ohne Antworten,
Fragen, die nicht mehr wichtig sind für mich.
Aber eine neue Frage habe ich gestellt:
Wie waren die letzten Stunden für dich?

Wie gern hätt’ ich deine Hand gehalten,
Deine Tränen und Sorgen genommen,
Mehr an Zeit und Kraft gewonnen.

Es ist zu spät, die Zeit ist um,
Kein Zurück, ich muss nach vorn.
Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht wo,
Ich habe mich bereits verlor’n.

Ich weiß nur, dass ich weitermuss.

LESEPROBEN

Harald Köhl, aus: Vergeudete Lebenszeit

Aufhören!
Denn es gibt immer noch etwas Besseres als den Tod

Per Olov Enquists Buch Ein anderes Leben ist eine bewundernswerte Alkoholiker-Autobiografie. Geschrieben ist sie aber in der 3. Person: Er, Enquist. Die dadurch ermöglichte Selbstdistanz hatte er fürs Schreiben bitter nötig.

Als er eines Nachts wie gewöhnlich gegen vier Uhr (…) aufwacht, ist plötzlich alles kristallklar und unumkehrbar: Er glaubt, gekämpft und alles versucht zu haben, und nichts hat geholfen. Er setzt sich im Bett auf und faltet die Hände und betet stumm und vorwurfsvoll zu Gott und sagt, ja aber ich habe es doch versucht, und ich habe gekämpft, aber der Dank ist diese chemische Vergiftung, die du mir gegeben hast, du elender Gott! Warum musst du, ähnlich der Art und Weise, in der du Hiob gestraft hast, mich so erbärmlich strafen? Und herzlieb du lieber Gott, den es doch, wie ich mich erinnere, gegeben hat, kannst du nicht dieses Kreuz von mir nehmen? Denn du sollst wissen, und das sage ich dir mit meiner schärfsten Stimme, dass ich nicht mehr verantwortlich bin für das, was geschehen wird, wenn du diesen Kartoffelsack nicht von meinen Schultern hebst. Nicht dass ich mich ins Eisloch versenken will wie Onkel Aron, als er sich auf der Burebucht ein Loch ins Eis hackte und drin hängenblieb. Nein, ich werden den kleinen Volvo nehmen und mit hoher Geschwindigkeit nach Gilleleje fahren, wo ich mir einen Felsen ausgesucht habe, an dem ich diesen Volvo zerschmettern werde (…).(…) aber wahrlich, wahrlich, ich sage Dir, lieber Gott, meine Verzweiflung ist jetzt so groß, dass meine Geduld am Ende ist, und ich halte diese Erniedrigung, die du mir auferlegt hast, nicht aus.
Aber da hatte Gott, wenn es ihn gab, (…) zu ihm gesprochen und gesagt: Per-Ola, hast du nicht ein Buch mit dem Titel Auszug der Musikanten geschrieben? Das bei mir auf dem Nachttisch liegt. Und das ich zu lesen begonnen habe. Und da habe ich gelesen, dass die kaputten und kranken und elenden Tiere in diesem Märchen, das Die Bremer Stadtmusikanten heißt, ihren letzten Marsch angetreten haben. Und sie haben sich gesagt, dass nichts hoffnungslos ist und dass auch die am tiefsten Erniedrigten eine Hoffnung haben. Und haben sie nicht zueinander gesagt: Es gibt immer noch etwas besseres als den Tod.
Ich frage dich, Per-Ola – hast du dieses Buch geschrieben oder hast du nicht?
Von dem Du unbedingt wolltest, dass die Menge es lesen soll. Und ihnen gesagt: Es gibt immer noch etwas Besseres als den Tod. Und jetzt redest du in deiner Verirrung davon, diesen nagelneuen Volvo an einen Felsen zu zerschmettern, und dich noch dazu, ohne dich selbst an das zu halten, was du den armen Buchverkäufern sagst, um ihnen Hoffnung zu machen. Bist du noch ganz bei Trost?
Und danach war Gott verstummt.
Und da hatte er sich im Bett  zurückgelegt, obwohl die Laken verknüllt und verschwitzt waren. Und dank der strengen Worte, die Gott oder wer es denn war, an ihn gerichtet hatte, konnte er (…) an diesem Morgen noch mal einschlafen.
Aus: Per Olov Enquist, Ein anderes Leben, Frankfurt am Main 2011: 508f.

***
Enquist in einer von vielen Entgiftungen, in einer katholischen Einrichtung: „(…) …  und als er, um die Qual des Entzugs zu mindern, um ein kleines Glas Whisky bittet, kommt eine ältere Nonne in Tracht mit einem kleinen Glas Whisky und gibt es ihm mit einem strahlenden Lächeln.
Es ist völlig unfassbar. Jemand der barmherzig ist und versteht, dass er immer noch eine Art Mensch ist.
(Ebd: 510 – Ortsangabe und Hervor. H.K.)

Er (…) konnte im Büro (einer anderen Trinkerheilanstalt – Eine H.K.) ein Telefongespräch von seiner Tochter Jenny entgegennehmen. Sie sagte, dass sie ihn bewunderte, weil er es noch einmal versuchte.
Und auch wenn es dieses Mal nicht klappen würde, bewunderte sie ihn, weil er es trotz allem versuchte.
Manchmal ist ein Wort ein richtiges Wort, auch wenn es nicht so besonders klingt. Seine Tochter bewunderte ihn.
Er konnte es fast nicht ertragen.
(Ebd. 536 – Herv. H.K.)

Nina Heick. www.ninaheick.de

Zum Thema „Alkoholabhängigkeit“ (des eigenen Vaters)

Aus dem Roman „ZWEI HERZEN – Wer bin ich? Wer will ich sein?“ 
Du fehlst mir, Papa

Heute, am 22. Dezember, vor drei Jahren ist Papa verstorben. Ich erfuhr es am zweiten Weihnachtstag, als ich in der Asklepios Klinik Harburg anrief. Mama verfolgte mein Telefonat mit dem Chefarzt und trat, die Hände über das Gesicht geschlagen, hinter mich. Ihre Augen überschwemmten, während ich steif dasaß – unter Schock nicht in der Lage, mich zu rühren. Sie legte die Arme um meinen gelähmten Körper, bis auch ich meiner Trauer Auslass gewähren konnte. Die Suche nach der verlorenen Zeit fand hier ihr Ende.

Wenige Tage nach Lenns Tod schrieb ich:

Ich fühle mich wie eine vertrocknete Pflanze, die ohne Wasser zu überleben versucht. Ich bin der Wüstenboden, der vor Hitze und Sehnsucht nach Regen zu explodieren droht. So in etwa lässt sich mein seelisches Befinden beschreiben. Es ist, als wäre ein Teil von mir verloren gegangen – ein Teil, der mich zu einem Ganzen gemacht hat. Eigentlich war ich bereits unabhängig davon ein Ganzes, weil dieser Teil nie wirklich erreichbar für mich gewesen ist, aber wo ich nun weiß, dass ich ihn nie wiederfinden werde, empfinde ich mich als einen Teil des Ganzen, dem das Gegenstück fehlt.

Ich möchte meine Trauer durch Tränen ausdrücken, aber mein Körper wehrt sich dagegen. Meine Kehle ist trocken, als hätte ich Ruß im Rachen.

Ich liege in einer schwarzen Schlucht und friere. Meine Augen blinzeln in die Dunkelheit hinein – auf der Suche nach einem Funken Licht. Es ist leer, obwohl ich mich von Stimmen und Gedanken erschlagen fühle. Stimmen bekannter, besorgter Gesichter trampeln in meinem Kopf herum. Alle wollen helfen, jeder reicht mir seine Hände, um mich nach oben zu ziehen. Aber ich, ich möchte einfach nur bleiben, wo ich bin.

Warum, warum nur? Diese Frage lässt mich nicht los. Wie eine Schlinge zieht sie meinen Hals zu und nimmt mir die Luft zum Atmen. Der Schock lähmt mich und verhindert, dass ich das Seil, das sich von selbst enger zu schnüren scheint, zu lösen in der Lage bin.

Ich verstehe es einfach nicht und will es nicht verstehen. Warum jetzt? Warum gerade jetzt? Ich wäre wahrscheinlich nie „so weit“ gewesen. Es gibt kein richtig oder falsch in diesem Fall, keinen „richtigen“ Moment. Aber wer bestimmt das?

Das lange Suchen hätte sich gelohnt, dachte ich noch vor knapp zwei Monaten, aber soll das schon alles gewesen sein? Dieses eine Beisammensein, um sich danach wieder zu trennen und für immer Abschied zu nehmen?

Ich versuche, etwas Positives darin zu finden. Die Zufälle. Dass ich ihn ausgerechnet an jenem Zeitpunkt aufspürte; dass ich meine Kamera bei mir trug, um sein Lächeln auf Bildern festzuhalten; dass ich die Zweisamkeit im Augenblick genoss, meine Zuneigung offenbarte, Träume und Wünsche aussprach – Hoffnung für ihn in Frieden, ohne Fragen über das Vergangene, nämlich meine Vergangenheit, zu stellen. Als hätte ich sein Ableben unbewusst geahnt.

Ich wollte so viel mit ihm erleben, entdecken, sehen, schmecken. Wie meine Worte fielen, so fiel auch die Erkenntnis, dass meine Träume Träume bleiben würden.

Und obwohl die Zeit zum Kennenlernen nicht reichte, war die Verbindung so stark, dass ich weder an seiner Liebe noch an seinem Vertrauen zweifelte.

Ich werde nicht vergessen, wie er mir ins Gesicht sah. Der Blick leer und doch im tiefsten Inneren warm und liebevoll. Mit dem verborgenen Glanz eines gut aussehenden, fröhlichen Mannes, während er in sich zusammengefallen, heiser, beinahe krächzend, zu mir sagte: „Ich bin so stolz auf dich, meine Kleine!“

In meiner Zeit als Pflegekind bot die Sozialarbeiterin Möglichkeiten an, Papa zu treffen. Ich erinnere mich nur an zwei unserer Begegnungen. Eine davon beim Jugendamt, wo mir Paps einen Zeichenblock und Stifte mitbrachte, fragte, wie die Schule laufen würde und ob ich denn schon einen Freund habe. Die andere, als er wegen Drogenbesitz und Diebstahl im Knast saß. Da war ich acht Jahre alt. Papa schaffte es nicht immer, unsere Verabredungen wahrzunehmen, weil er vermutlich zu betrunken oder auf der Flucht war. Zwei liebevolle Briefe habe ich von ihm. Einen schrieb er 1994 aus Ghana, wo er durch einen Freund Arbeit gefunden hatte.


Hallo Victoria, mein kleiner Schatz!

Du wirst sicher schon geglaubt haben, ich hätte dich vergessen. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil. Ich denke sehr, sehr oft an dich. Ich vermisse dich sehr. Wie Omi mir berichtet hat, geht es dir gut. Das macht mich unglaublich glücklich. Du warst ja sogar schon öfter auf Mallorca und im Skiurlaub. Das hat dir bestimmt riesigen Spaß gemacht, was? In die Schule kommst du nun auch bald, freust du dich darauf? Ich schätze mal, so klug, wie du bist, wirst du keine Schwierigkeiten haben.

Da ich noch nicht genau abschätzen kann, wann ich wieder in Hamburg sein werde, kann ich dir nicht sagen, wann wir uns sehen. Aber ich verspreche dir, es dich als Erstes wissen zu lassen. Ich wünsche dir das Allerbeste.

Es küsst und umarmt dich, mein Schatz, dein Papa in Liebe.

Nach meinem letzten Besuch damals im Gefängnis verstrichen zehn Jahre, bis ich Papa mithilfe des Jugendamts (das mir seine Fotos von 2005 zugesandt hatte und mir riet, ihn besser so in Erinnerung zu behalten, wie er war) und die Mutter seiner Verlobten ausfindig machen und 2006 ein paar Tage mit ihm verbringen konnte, ehe ich ihn kurz darauf wieder aus den Augen verlor.

Ich war schon seit einem Monat in der Psychosomatik, als ich seinen Anruf erhielt. Er wollte mich besuchen kommen, brach jedoch auf dem Weg zu mir in die Klinik zusammen und wurde sofort stationär aufgenommen – nur wenige Türen von mir entfernt. Weil ich nichts von ihm hörte und glaubte, er hätte mich im Stich gelassen, fiel ich in eine heftige Depression. Eine Krankenschwester informierte mich am Folgetag über seine Einlieferung, sodass ich sofort zu seinem Zimmer lief. Als ich den Raum betrat, rollte Papa sich auf seinem Bett herum und probierte, auf die Beine zu kommen. „Mein Schatz!“, wisperte er mit einem erfreuten Lächeln auf den Lippen. Ich setzte mich zu ihm und drückte ihn fest. Er müffelte, war dicker, als ich ihn in Erinnerung hatte, und trug keinen Schnauzer mehr. Ich weiß nicht genau, was ich in dem Moment empfand. Ich war glücklich und zugleich ein wenig angeekelt von dem Gestank nach Alkohol. Ich vermied es, seine klebrigen Hände mit den Blutstellen daran an meine herankommen zu lassen, weil ich befürchtete, mich mit irgendwas anzustecken. Zu weinen verspürte ich kein Verlangen. Während ich ihm mein Gedicht vorlas, wog ich ihn in meinen Armen. Ihm liefen die Tränen.

Er nuschelte ziemlich. Ich konnte kaum verstehen, was er mir aus meiner Kindheit zu erzählen versuchte. Obwohl ich mich ihm gegenüber nicht fremd fühlte, irritierten mich seine Offenheit und das Vertrauen, mit dem er mir begegnete. Er übersäte mich mit Komplimenten und zupfte sogar an meinem String, mit den Worten: „Das sieht ja kess aus!“

Dann musste ich zum Abendbrot. Alle paar Stunden sah ich erneut nach Papa, bis er plötzlich verschwunden war.

2007 nahm ich meine Suche erneut in Angriff, was gar nicht so einfach war, da auch die Polizei erfolglos nach Papa fahndete. So machte ich mich eigenständig auf den Weg und klapperte Hamburgs Straßen und Obdachloseneinrichtungen ab. Ich verteilte Flugblätter mit Lenns Daten und seinem Bild darauf, unterhielt mich mit zig hilfsbereiten Pennern und Hinz&Kunzt-Verkäufern. Jeder einzelne bemühte sich und hörte geduldig meine Geschichte an. Im März schrieb ich einen gedanklichen Brief. Wenn Papa an mich dachte, so würde er mich führen.

Ach Papa, was machst du nur für Sachen?, denke ich mit schüttelndem Kopf und einem verbitterten Lächeln auf den Lippen. Wir sind uns so ähnlich. Ich vermisse dich. Aber etwas Positives hatte die Nachfrage bei der Polizei auch. Die Dame war so nett und hatte Mitgefühl. Sie zeigte mir ein aktuelleres Bild von dir. Außerdem sagte sie mir, dass ich dich vielleicht in Harburg finden würde – da wärest du zuletzt gesichtet worden. Das Wichtigste aber ist, ich weiß, du lebst. Habe schon mit dem Schlimmstem gerechnet, weil ich nicht sicher war, wie krank du bist. Aber du hältst durch. Ich glaube an dich, genauso wie ich an meine Stärke glaube, weiterzulaufen, ohne stehen zu bleiben. Mach nicht so viel Mist! Dein Foto hat bestätigt, dass ich dich gesehen habe. An jenem Tag vor etwa einem halben Jahr. Wir fuhren in derselben Bahn, im selben Abteil, aber ich bin nicht sicher gewesen, ob du es warst. Du hattest dich verändert, sahst irgendwie gesünder und schmaler aus. Aber entsprachst genau dem Bild, wie ich es heute sah. Zu kurz leider. Wieso hab ich nicht gefragt!? Weißt du, ich mache so lange weiter, wie ich kann. Tue alles, was in meiner Macht steht, so lange wie mich meine Füße tragen. Ich gebe nicht auf, nie! Die Hoffnung stirbt zuletzt. So solltest du auch denken, aber ich bin überzeugt, das tust du. Die Zeit und das Schicksal werden es richten. Wahrscheinlich möchtest du gar nicht gefunden werden. Noch nicht. Nicht in der Situation. Aber du kannst dich auf mich verlassen. Ich verpfeif dich nicht. Nur weil ich dein Verhalten nicht für richtig halte, heißt es das noch lange nicht. Ich bin und bleibe deine Tochter, die dich liebt. Trotz aller Schwächen, die du hast.

Ich habe viele Kontakte. Oma und Elsbeth, die Mutter deiner Verlobten Michaela und die von Christina. So viel haben sie mir erzählt. Wer und wie du warst, bevor du so tief gefallen bist. Wie hilfsbereit und charmant du sein kannst, wie verletzlich, traurig und einfühlsam. Sensibel … Eigenschaften, die wir gemeinsam haben. Und auch die negativen Seiten an dir – die labile, die aggressive, die verzweifelte. Aber kannste dir vorstellen, dass ich es verstehe? Ich bin nicht erbost, denn auch diese Eigenschaften liegen meinen nahe. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich die Kontrolle bewahre. Vernünftig bleibe (nicht immer, aber meistens). Wie oft habe auch ich mich in Alkohol und andere Süchte geflüchtet. Wie oft haben Menschen die Macht gehabt, mich kaputt zu machen, weil ich es zuließ, mir mein ganzes Selbstwertgefühl nehmen oder mich depressiv stimmen zu lassen. Ich muss dann ganz besonders an dich denken und daran, welch negativen Einfluss deine große Liebe Sybille auf dich gehabt haben muss, dass sie dich so zunichte schaffte, indem sie dir nicht das gab, was du dir gewünscht hast. Liebe.

Ich erkenne mich in dir wieder. Nicht nur seelisch, sondern auch jeden Tag, den ich in den Spiegel schaue. Deine Augen in meinen, dein Lachen, deine Art zu sprechen. Ich habe deine Stimme nie vergessen. Ich kann sie hören. Sogar meine Hände habe ich von dir geerbt. Schöne, breite Hände mit langen, schmalen Fingern. Jetzt kämpfe ich gegen die Tränen an. Der Schmerz begleitet mich immerzu. Dafür, dass auch ich schon einiges durchmachen musste, krieg ich immer wieder die Kurve. Aber es gab auch Momente, in denen ich meine Grenzen überschritten habe und mich Gefahren aussetzte. Aus Fehlern lernt man und ich würde dir gerne einen Teil meiner Stärke abgeben. Ich kann keine Berge versetzen, das kann keiner. Ich werde dir nicht deine Arbeit abnehmen, dein Leben geradebiegen, dich vom Alkohol fernhalten oder dich bei mir einziehen lassen. Jeder muss sich selbst aus der Scheiße ziehen und eigene Erfahrungen machen. Aber ich sehe dich … weinend im Dunklen sitzen. Traurig darüber, wie dein Leben verlaufen ist. Du hast viele Menschen verloren. Freunde und Familie. Die Folge des Heroinkonsums. Wie gesagt, ich werde niemandem Auskunft geben, wo du dich aufhältst, sofern ich es denn wüsste. Genauso wenig, wie ich dir Auskunft geben darf, wo sich deine Verwandten befinden. Du hast dir Freunde zu Feinden gemacht. Mich hast du nie verloren.

So unfair es nun auch für dich klingen mag, aber ich denke, dass es tatsächlich das Beste wäre, du würdest in den Bau komm. Ich werde einen Teufel tun, dich dorthin zu befördern. Du müsstest dich schon selber stellen. Aber schau mal, ist es nicht besser, als ewig in Angst und Ungewissheit zu leben? Besser, als jeden Winter eine warme Unterkunft suchen zu müssen? Du bekommst regelmäßig Essen, wirst möglicherweise auf Drogen- und Alkentzug gesetzt; bestenfalls kriegst du auf Bewährung und ich könnte dich so oft besuchen, wie es dir beliebt. Vergiss mal die Frauen! Im Mittelpunkt stehst du. Nicht die Bestätigung anderer, sondern die Liebe, die du dir selbst schenkst. Dich lieb haben! Gar nicht so einfach, wa? Fällt mir auch schwer.

Ich habe dich viel zu wenig gefragt im Krankenhaus damals. Ich war wie gelähmt und du warst betäubt. Von den Scheißmedikamenten, die sie dir verabreicht haben. Obwohl es unschön gewesen ist, dass du auf dem Weg zu mir in die Klinik zusammengebrochen bist, ich dachte erst, du kämest mich doch nicht besuchen und war fix und fertig deswegen. So war’s dennoch witzig, dass du geradezu um die Ecke lagst. Wir sind schon beide echt gestört – du Alki, ich Bulimikerin. Wie Vater und Tochter eben. Oh Mann. Weißt du noch, wie wir eingehakt durch die Flure schlurften, um uns Kaffee zu besorgen? Du musstest lachen, weil du glaubtest, die Leute würden auf die Idee kommen, dass ich deine Freundin sei.

Ich las dir eines meiner Gedichte vor, das ich dir geschrieben hatte. Du weintest. Das hat mich sehr berührt. Süß war auch, wie arg du dich freutest, als ich dir Tropifrutti mitbrachte. Die esse ich auch so gern, aber ich ahnte ja nicht, dass das deine Favoriten von Haribo sind.

Ich wollte gern mit dir bleiben. Da war doch so viel Aufholbedarf. Und die therapeutische Hilfe hätte uns beiden gutgetan. Ich kann’s gut nachvollziehen, dass du Krankenhäuser nicht leiden kannst. Ich übrigens auch nicht, aber wäre schon netter gewesen, wenn du mir wenigstens Tschüss gesagt hättest, bevor du abgehauen bist. Ich hab mir echt Sorgen gemacht. Nun will ich aber mal meine Fragen stellen.

In welchem Verhältnis standest du zu Oma? Ich erlebe sie oft als recht spröde. Ob sie dir wirklich das Gefühl geben konnte, dass sie dich liebte? Oder hast du dich abgeschoben gefühlt? Was ist mit deinem Vater, der angefangen hat zu trinken? Was hast du empfunden, bist du in seine Fußstapfen getreten? Suchst auch du das Unerreichbare und kannst nur schwer loslassen? Was war damals mit Christina? Warum hast du sie, laut ihrer Aussage, verprügelt? So hab ich dich gar nicht eingeschätzt. Warum hat sie uns ohne mich verlassen? Warum holte mich das Jugendamt? Warum hast du mich so selten im Heim besucht? Wovor hattest du Angst? Angst, deine Freunde zu verlieren? Halt?

Ich fand Christina, nachdem ich dich gefunden hatte. Wir haben uns zwei, drei Male getroffen. Inzwischen hat sie den Kontakt zu mir abgebrochen, weil sie meinte, ich sei ein egoistisches Stück, meiner löchernden Fragen ihres Fortgehens wegen. Ich finde diese Frau herzlos. Sie hat überhaupt nichts übrig für Kinder oder zumindest nichts für ihre eigenen. Hat sie überhaupt was für dich übrig gehabt? Ich versteh schon, was du an ihr mochtest. Sie ist ziemlich hübsch. Diese weiße Haut mit den Sommersprossen, die roten Haare, die großen blauen Augen … Ich habe ein Foto von Sybille gesehen. Die war Christina in ihrer Erscheinung ziemlich ähnlich, nicht? Ich steh ja auch auf solche Typen. Hab ich das von dir? Oma Glinde hatte mir ein Bild von Christina geschickt, als ich klein war. Ich vergötterte Christina regelrecht. Aber hör zu, Papa. Vom schönen Teller isst man nicht!

Wie geht’s meinem kleinen Bruder? Fragt er noch nach mir, weil wir doch telefonierten, erinnerst du dich? Er hatte sich so wahnsinnig darüber gefreut. Siehst du ihn ab und zu?

Ich habe dich als Kämpfer in Erinnerung. Du hast um mich gekämpft, auch wenn du nicht immer in der Lage dazu warst. Du warst in deinen Gedanken bei mir. Du hast mir viel Liebe auf den Weg gegeben. Was hast du in Ghana gemacht? Wie lange war ich bei deinen Freunden untergebracht, wer hat auf mich aufgepasst? Haben sie mich angefasst? Eine Zeit lang hatte ich Angst vor Männern, daher frage ich. Wer war die blonde Frau, die nach Christina oft bei uns war, und wer war die Schwarze, mit der du laut Aussage Christinas Mutter zusammen gewesen bist? Du hast eine Tochter mit ihr? Wie kann ich sie finden? So viel, was ich wissen möchte. Ohne Antwort.

Was mir jedoch besonders auf der Seele liegt – ich möchte dich in Sicherheit wissen. Ich hoffe, dass es dir gut geht. Wenn auch du just in diesem Augenblick an mich denkst, wo immer du sein magst … Du fehlst.

Hab dich lieb, Daddy.

Deine Tochter.

Was ich noch über meine Kindheit und Eltern durch meine Oma Dagmar, ihre Schwestern Elsbeth und Helen und Oma Glinde (Christinas Mutter) erfuhr: Lenns Flucht in die Sucht begann in der Zeit beim Bund. Unglücklich verliebt in eben diese gierige Sybille, für die er sich verschuldete und sein Selbst aufgab. Da seine finanziellen Mittel nicht ausreichten, strafte sie ihn mit Liebesentzug und der letztendlichen Trennung. Dies hat er bis an sein Lebensende nicht verkraftet. Er konnte sie nie vergessen. Ebenso wenig wie seinen Vater, dem die alkoholische Abhängigkeit zum tödlichen Verhängnis geworden war.

Er lernte Christina kennen, die bereits einen Sohn aus voriger Ehe mitbrachte (meinen großen Halbbruder Lukas) und wünschte sich gegen ihren Willen die Heirat und ein weiteres Kind. Obwohl Sprösslinge sie kalt ließen, setzte sie mich in die Welt und widmete ihr eigentliches Interesse sich selbst und das der Männerwelt. Sie soll Lenn mehrfach untreu gewesen sein und für Drogen angeschafft haben, was ihn rasend gemacht hatte vor Wut, bis er ihren Auszug verlangte. Mich wollte er um jeden Preis behalten, nicht zuletzt Christinas Partnerwechsel wegen. Da sie laut Glindes Aussage mit mir sowieso nichts anfangen konnte, packte sie ihre Sachen samt der sechs Katzen, mit denen ich aufgewachsen war. Lenn soll daraufhin außer Kontrolle geraten und handgreiflich geworden sein. Auch weitaus später Dagmar gegenüber, die ihm die Geldgabe für Heroin verweigerte. Danach distanzierte sie sich von ihrem Sohn.

Es folgte tatsächlich eine blonde Freundin, an die ich mich erinnern kann, obwohl ich maximal drei Jahre alt war. Sogar unsere Wohnung in Altona neben Glindes Haus ist in meinem Kopf verankert. Ich weiß von dem Fluchtereignis wegen eines Einbruchs bei uns, bei dem Lenn mich durch ein kleines Fenster hinausgehoben hatte. Mir ist noch das Probieren von Bierschaum am Küchentresen gegenwärtig oder Papas Einschlafen während der Busfahrten. Meistens waren wir in Gesellschaft seiner Saufkumpane, die auf Bänken hockten und den Tag mit Schnapsflaschen begrüßten. Einmal, ich saß hinten drauf, stolperte Pas Rad über Steinpflaster. Mein kleines Beinchen geriet in die Speichen, das Blut schoss durch die klaffende Wunde. Kreischend wurde ich ins Krankenhaus Barmbek gebracht. Währenddessen räkelte sich sein Kollege im Stadtpark. Ich bin im Kindergarten vergessen worden. Ich hasste es, mir die Zähne putzen zu lassen, weil ich mich schrecklich vor Wasser fürchtete, woraufhin diese zu faulen begannen. Ich trug schmuddelige Pullover, da Lenn meine neue Garderobe von Oma vertickte.

Dagmar war es meistens, die auf mich aufpasste, meine Klamotten wusch und mich mit Nahrung versorgte. Ich soll oftmals so sehr gestunken haben, dass das Jugendamt auf mich aufmerksam wurde.

Wenn Papa außer Haus war, stand ich auf dem Balkon und blickte traurig zum Spielplatz, wo andere Kinder lachend spielten.

Lenns Freunde starben wie die Fliegen. Lukas ging nach Christinas Rausschmiss, weil er ungefragt ihre Post geöffnet hatte, freiwillig ins Heim. Elsbeth (ebenfalls Alkoholikerin) kämpfte für den Heroinentzug meines Papas, indem sie ihn ans Bett fesselte. Er hätte oft um sein Leben geweint und Auswege gesucht, erzählte sie mir. Da er nicht allein sein konnte, blieb der Absprung erfolglos. Er kehrte stets in seinen Suchtumkreis zurück.

Michaela wäre es gewesen, die ihn aufs Neue den Drogen auslieferte.

Im Heim war ich besser aufgehoben. Ich wurde von meinen Betreuerinnen Amelie (die mir bis heute Postkarten schreibt) und Olivia zutiefst ins Herz geschlossen und durfte mit in ihre Wohnungen, in denen ich mit Disneyfilmen und Puppen verwöhnt wurde.

Lenn willigte in meine Adoption erst ein, nachdem ihn Susi zwei Stunden lang am Telefon angefleht und beschworen hatte, für mich durchs Feuer zu laufen und alles zu tun, was in ihrer Macht stand. Hierbei ließ er die Frage nach meinem Wunsch nicht aus, auch wenn dieser gar nicht berücksichtigt worden wäre. Ich wollte natürlich bei Mama bleiben. Und dennoch soll ich ständig über Lenn geredet haben, sagte sie mir vor einer Weile.

Das Wiedersehen und der Abschied

Zurück zum Jahre 2008 – acht Monate nach meinen Zeilen an Paps.

Ein kalter Novembertag. Zittrig betrat ich den Harburger Rathausmarkt und fand den Trinkkollegen Ali, der mich zu Lenn geführt hatte, Papa und Michaela vor. Lenns Mund stand offen, er blickte leer drein – die Augen glasig, das Gesicht gelb und aufgedunsen durch die Hepatitis und Leberzirrhose. Er sah schlecht, ungepflegt aus und zeigte erste Anzeichen einer Demenz. Wir umarmten uns innig. Auch Michaela und ich, bevor sie und Ali uns allein ließen. Wir sprachen nicht viel. Papa wirkte müde und schlaff. Er litt unter heftigen Bauchschmerzen, die von einer inneren Blutung herrührten, weil er den Schlüssel seiner Sozialwohnung in den Keller hatte fallen lassen und kurz darauf hinterherstürzte. Ich erzählte aus meinem Leben, er erzählte aus seinem – von Michaela, dem gemeinsamen Sohn Florian, der nun zwölf sein musste und psychologisch betreut wurde, von der Sehnsucht nach einem normalen Leben, dem Wunsch eines Familienzusammenhalts, von Unabhängigkeit – frei von Kontrollbesuchen der Sozialarbeiterin und natürlich von Sybille, die er bis heute liebte. Es gab keine Vergangenheit, die Gegenwart zählte. Papa öffnete sein Bier, ich kaufte ihm sein geliebtes Erdbeereis, wir schlenderten durch die Arkaden, ich lud ihn auf einen Hamburger ein und besorgte ihm Schmerzmittel. Ich bemerkte die verächtlichen Blicke von der Seite, die ich erbost erwiderte, und drückte Paps demonstrativ fester an mich.

Nach dem Treffen war ich wie versteinert. Ich wollte weinen, vergebens. Ich wusste nicht, was ich dachte, ob ich dachte. Vakuum. Ich spürte mich nicht. Ich fühlte nichts.

Einen Monat dauerte es, bis ich Lenns Verlobte anrief und die lallende Auskunft erhielt, er befinde sich in der Harburger Klinik. Einen Monat zu spät.

Erst am 28. Januar fand die Beerdigung statt. Mit den engsten Angehörigen, aber ohne Michaela.

Ich sitze in der ersten Reihe – versteinert und von Tränen überflutet. Ich kann mich nicht bewegen. Ich schaue nur ungläubig auf diesen mir viel zu klein erscheinenden Kiefernsarg. Die Worte des Redners hallen im Raum, scheinen durch mich hindurch zu ziehen, obwohl ich sie wahrnehme, verstehe und erkenne. Dennoch ist mir, als wäre ich abgetaucht – in eine andere Welt. In meine, für den Moment, traurige Welt. Und in seine Welt. Die Erinnerung daran, noch kürzlich neben ihm gesessen und mit ihm geredet zu haben … Und die Vorstellung, nun liege er in dieser Holzkiste und versinke in ihr unter der Erde, wo sie zerfällt. Meine Blicke wandern neben mich. Tatsächlich, auch Oma weint. Ich habe sie noch nie weinen sehen.

Mama greift nach meiner Hand. Ich schlage sie zurück. Unerträglich, ihre Emotionalität verstärkt meine. Ich fühle mich angesprochen, ich bin es auch. Der Redner widmet mir seine Worte – einfühlsam, ehrlich und liebevoll.

„Es ist nicht leicht für Sie gewesen! Sie liebten Ihren Vater und er hat Sie geliebt. Er hat sich das Beste für Sie gewünscht und war sich dabei bewusst, dass es ihm an Kraft fehlte, um Sie zu beschützen. Die Mauern, die er um sich herum erbaut hatte, ließen ihn nicht über seinen eigenen Schatten springen, obwohl er es wollte und versuchte. Aber Sie haben ihn nicht aufgegeben, Sie haben ihn gesucht. Und was ich besonders schön fand: wie Sie mir erzählten, war dieser eine Tag, an dem Sie ihn wieder trafen, der schönste für Sie beide.

‚Ich werde dich mit deinen Schwächen liebevoll in Erinnerung behalten’ – dieser von Ihnen formulierte Satz hat mich sehr bewegt. Hören Sie nicht auf zu lieben, und tragen Sie Ihren Vater weiterhin in Ihrem Herzen …“

Ich sehe mich erneut weinen, meine Nase triefen, in Taschentücher rotzen.

„Sie haben Träume gehabt. Sie wollten mit Ihrem Vater ins Theater, ins Musical …“

Ich kann mich nicht konzentrieren. Höre mein Schluchzen und eine mich ermahnende, innere Stimme, die mir befiehlt, mich gefälligst zusammenzureißen, während eine andere zu mir spricht und meine Trauer erlaubt.

Als ich mich von meinem Stuhl erhebe, drohen meine Beine einzuknicken.

Ich bewundere die Sachlichkeit meiner Mutter, mit der sie es geschafft hat, ihre Rede zu halten, ohne zu weinen. Ich bin stolz auf sie. Im Gegenteil zu ihr vermag ich es nicht, mich aufs Podest zu stellen. So ein Pult ist vielleicht nützlich, um sich daran festzuhalten, aber es hindert mich an der flexiblen Möglichkeit zu flüchten.

Ich stelle mich daneben und nehme verschwommen die auf mich gerichteten Blicke wahr. Frage mich für einen Augenblick, ob mein Onkel Andy, den ich bisher nur aus Erzählungen kannte, wärmer ist, als er aussieht.

Als ich ihn draußen vor der Kapelle misstrauisch gemustert hatte, spürte ich einen kalten Schauer über meinen Rücken gleiten. Das Gesamtbild – Muskelpaket, knapp zwei Meter großer Schrank, aknevernarbtes Gesicht und tätowierter Nacken bis hoch zum Kahlkopf – war angsteinflößend und gleichzeitig beeindruckend anziehend.

Ich bekomme einen panischen Lachanfall. Meine Arme schlackern, meine Augen schwimmen. Das erschwert das Vortragen meines Gedichtes deutlich. Meine Stimme klingt genauso fremd und weit weg wie die des Redners vorher. Meine Worte überschlagen und verhaspeln sich, Salz läuft mir über die Lippen.


Abschied

Mein Leben lang hast du gefehlt,
Hab dich gesucht, an dich gedacht.
Deine letzten Tage waren gezählt,
Zu wenig miteinander Zeit verbracht.

Liebe hast du mir auf den Weg gegeben,
Dein Lächeln, Wärme und Menschlichkeit.
Trotzdem musst’ ich ohne dich leben,
Ab von trauriger Realität und Wahrheit.

Der Tod war greifbar, unglaublich nah,
Du hast nach ihm gegriffen, mich verlassen,
Als ich nichts als Hoffnung auf Gesundung sah.

So kurz wie du bei mir warst,
So schnell bist du fort.
Ohne ein Zeichen des Abschieds,
An einen mir unerreichbaren, fernen Ort.

Es ist vorbei mit Hoffen und Glauben,
Übrig bleiben die Sehnsucht, das Vermissen.
Tränen und Trauer, die meine Kräfte rauben,
Brutal wurdest du aus meinem Leben gerissen.

Wie soll ich den Gedanken ertragen,
Dich nie wirklich gehabt zu haben?
Wie soll ich die Erkenntnis besiegen,
Nie wieder in deinen Armen zu liegen?

Ich hatte so viele Fragen – ohne Antworten,
Fragen, die nicht mehr wichtig sind für mich.
Aber eine neue Frage habe ich gestellt: 
Wie waren die letzten Stunden für dich?

Wie gern hätt’ ich deine Hand gehalten,
Deine Tränen und Sorgen genommen,
Mehr an Zeit und Kraft gewonnen.

Es ist zu spät, die Zeit ist um,
Kein Zurück, ich muss nach vorn.
Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht wo,
Ich habe mich bereits verlor’n.

Ich weiß nur, dass ich weitermuss.


Ich bleibe noch eine Sekunde lang stehen und erwarte Applaus, wobei mir einfällt, dass dies auf einer Beerdigung unüblich ist. Zurück auf meinem Platz fühle ich mich aufgefangen.

Ich sacke in mir zusammen und forme meine Hände zu Fäusten.

Es kommt mir vor, als halte die Zeit an. „Time to say goodbye“. Ich versuche, mich abzulenken, indem ich an meine Gesangsunterrichtsstunden und meine Lehrerin denke, die Sarah Brightmans Stimme vergötterte. Aber der Text lässt mir keine Ruhe. Die Bedeutung frisst sich in mein Gedächtnis. Es ist Zeit zu gehen. Es ist Zeit loszulassen.

Was geht Oma gerade durch den Kopf? Macht sie sich Vorwürfe, nichts hat ändern zu können? Ist ihr Selbstschutzmantel endlich abgelegt, sodass sie sich fallen und ihren Schmerz freilassen kann? Ich habe sie nie verstanden. Jetzt kapiere ich allmählich. Es muss das Schlimmste für eine Mutter sein, dem einzigen Sohn beim Absturz zuzusehen, daneben zu stehen – macht- und kraftlos. Und den Kampf aufgeben zu müssen, um sich selbst zu retten.

Sechs Männer in schwarzen Gewändern und ernster Miene treten vor. Ob sie mein Gedicht berührt hat? Sie knien vor, verbeugen sich und heben ihre seltsamen Hüte – wohl als respektvolle Geste, um sie kurzerhand wieder aufzusetzen.

Die Schleife meines Rosenstraußes ist zerknittert. Ich schäme mich. Lese „In Liebe deine Tochter“ und bemerke, wie nichtssagend und unscheinbar er gegen das Gesteck von Oma, Helen und Elsbeth wirkt.

Auf ein Kommando wird der Sarg auf einen Wagen gestemmt. Oma und ich folgen als Erste. Ich tauche meine Nase in die duftende rote Rose zwischen meinen Fingern.

Sowie wir in die Kälte treten, kommt in mir das Bedürfnis auf, eine zu rauchen. Mir steckt ein Kloß im Hals. Brechreiz. Wie kann ich jetzt ans Rauchen denken?

Ich starre auf den geschobenen Sarg vor mir und entdecke einen Riss zwischen beiden Hinterbeinen. Mir wird übel bei dem Gedanken, dass der Holzkasten auseinanderbrechen und der tote, zerfallene Körper meines Pas mir entgegenspringen könnte.

Lenns Grabkissen ist winzig zwischen all den prachtvollen Grabsteinen. Eine gegrabene Kuhle, ummauert. Ich dachte, Papa kommt in pure Erde, nicht in so einen Mauerschacht! Das Ganze wird mir unsympathisch.

An Seilen wird mein Paps hinuntergelassen. Eingelocht. Knast! Als wenn er nicht lang genug gesessen hätte. Oma greift nach einer der Schaufeln und wirft Sand auf Lenns neues Zuhause. Ich mach es ihr nach und komme mir dabei sinnlos, schäbig vor. Ich werfe das Gedicht und das letzte Foto von Papi und mir hinterher. Das Verlangen, ihm auf dem Bild einen letzten Kuss zu geben, erübrigt sich, weil ich unter Beobachtung stehe. Das Foto fällt mit dem Rücken und am Sarg vorbei. „Schade!“, ruft es unkontrolliert aus mir heraus, um mich im nächsten Moment vor Scham im Boden versinken zu lassen. Da wohl kaum einer den Grund meiner knappen Bemerkung verstanden haben wird, muss diese ziemlich sarkastisch angekommen sein.

In meinem Kopf summe ich zum Abschied das Lied „My way“ von Frank Sinatra, das ich mir für Papa gewünscht hatte.

Seither habe ich es erst zweimal geschafft, zum Friedhof zu gehen. Ich brach sofort zusammen. Bitte vergib mir, Papa! Sein Platz sah so verwahrlost, arm und verlassen aus wie sein Leben. Ich kann das nicht. Lieber trage ich Lenn in meinem Herzen, wo er für immer und ewig bleiben wird.

Michaela hatte mich einmal unmittelbar nach der Beerdigung angerufen, weil sie wissen wollte, wo er liegt. Sie weinte heftig. Ich verstand sie kaum, da ihre Stimme undeutlich lallte. Ich beschrieb ihr den Weg und schlug vor, sie bei dem Besuch zu begleiten. Dazu ist es aber nie gekommen, sie war ja doch ganz schön von der Rolle. Eigentlich hatte ich mich damals in der Pathologie persönlich von Papa verabschieden wollen. Davon wurde mir allerdings abgeraten, weil schon zu viel Zeit verstrichen war. Heute bin ich froh drum. Das Krankenhaus übergab mir seine Sachen, die er bei sich getragen hatte. Darunter Briefe von Michaela an ihn, in denen auch mein Name fiel. „Tut mir leid, ich weiß nicht, was mit Victoria ist.“ Oder: „Victoria hat sich nicht bei meiner Mutter gemeldet, nein.“ Es berührte, dass sich über mich ausgetauscht wurde, ebenso wie die Zärtlichkeit, mit der sie kommunizierten. Zum Beispiel, wenn sie ihre Zeilen mit den Worten „Es küsst und umarmt dich, mein Dickerchen, deine Michaela“ beendete.

Die ganze Geschichte tat mir ganz besonders für den kleinen Florian leid. Das Jugendamt meldete sich bei mir und erwartete, dass ich mich um ihn kümmerte. Das lehnte ich strikt ab, denn ich wusste, dass er sich an mich klammern und Halt suchen würde. Schließlich war ich als seine Halbschwester die einzig Übriggebliebene, die noch einigermaßen klar im Kopf ist. Abgesehen aber von der Tatsache, dass ich rein rechtlich gar nicht für ihn zuständig bin, mochte ich auch die Verantwortung nicht tragen, eine weitere Person zu sein, von der er enttäuscht werden würde. Ich wäre nämlich nicht fähig und verlässlich genug, ihn in regelmäßigen Abständen im Heim zu besuchen, zumal mich sein inzwischen geprägter Geist wahrscheinlich unermesslich traurig stimmen und an mich selbst erinnern würde. Denn er wurde nicht wie ich adoptiert. Mein Schicksal hätte genauso gut dem seinen gleichen können. Ich hoffe, dass er das Beste aus seiner Zukunft macht.

Zur Autorin:

Nina Heick wurde am 20.07.1987 in Hamburg geboren. Sie hat ein Studium für Kommunikationsdesign abgeschlossen und eine Zeit lang frei in diesem wie auch im fotografischen Bereich gearbeitet. Danach absolvierte sie den Bachelor in Sozialpädagogik und ist seitdem in diesem Beruf tätig. 

Anfang 2015 veröffentlichte sie als Self-Publisherin die Kurzgeschichtensammlung „Geschichten, wie sie das Leben schreibt“ und den Roman „ZWEI HERZEN – Wer bin ich? Wer will ich sein?“. Im Jahre 2020 ist der Roman „REISE OHNE ZIEL – Wo bin ich? Wo will ich hin?“ als E-Book erschienen. Er ist die Fortsetzung des ersten Romans, kann aber auch für sich alleine stehen. 

Harald Köhl

Ein Frauenleben (Tante Jeanne von George Simenon)

Tante Jeanne ist keiner der bekanntesten von Simenon Romanen. Er ist verdammt stark.

Diese Jeanne hatte ihr Elternhaus „vor fünfunddreißig Jahren“ verlassen, als sie „einundzwanzig war, genau einundzwanzig“: am Tag ihrer Volljährigkeit. Seither hat sie sich in der weiten Welt herumgetrieben und ist dabei tief gesunken. Sich selber prostituiert hat sie nicht, aber in Istanbul hatte sie „den niedrigsten aller Berufe, den sogar Männer verachten“ – und das will was heißen. Das Wort Puffmutter auszusprechen, ist sie zu schamhaft.

Nun kehrt sie heim, abgebrannt ist sie und ausgebrannt kommt sie sich vor „wie ein altes Tier“. Mit siebenundfünfzig Jahren ist sie müde, nichts als müde: „Mein Gott, wie müde ich bin! Todmüde.“

Im Elternhaus will sie „um eine letzte Zuflucht bitten, denn sie war so tief gefallen, sie war so erschöpft und so angewidert von sich selbst, dass sie nur um einen Winkel betteln wollte, um dort auf ihr Ende zu warten.“ Sie ist heimgekehrt, „weil sie sich alt und müde fühlte, weil sie versagt hatte“. Die Schamröte steht ihr im Gesicht. „Sie schämte sich, hier zu sein, wieder zurückgekommen zu sein.“ Sich schämt sich: „wegen meines ganzen Lebens“.

Deshalb weiß sie sich, auf den letzten Etappen ihrer Heimreise, nicht anders zu helfen: als zu trinken. In Paris ist sie in eine zweifelhafte Bar geraten und hat am Tresen mit wildfremden Männern aus schmierigen Gläsern getrunken. Und am Abend ihrer Ankunft, einem Samstag (sie steigt zunächst in einem Hotel ab), „musste sie unbedingt einen trinken und dann noch einen, und weil sie so besoffen war, konnte sie am Sonntag nicht schon morgens zu euch kommen.“ So kommt sie zu spät, um ihren Bruder noch lebend anzutreffen, einen Bankrotteur, der sich am Vorabend in seiner Verzweiflung erhängt hat.

Was sie ansonsten vorfindet, ist nichts als Unordnung, frühes und spätes Leid. Ihre Eltern sind zwischenzeitlich gestorben, ihre Schwägerin ist eine heillose Trinkerin und ihre Nichte ein haltloses junges Ding, das sich an ältere Männer verkauft. Die Pfändung ihres gesamten Besitzes steht der Familie ins Haus. Was aber tut nun Jeanne?

Sie, die heimgekommen ist, um sich bei ihrer Familie zur Ruhe zu setzen und bei ihr zur Ruhe zu kommen, krempelt die Ärmel hoch. Sie allein, dieser zutiefst verunsicherte Mensch, behält die Übersicht, stellt sich der Situation, man möchte fast sagen: souverän. Sie tröstet ihre Schwägerin, die in Selbstmitleid zerfließt, sie tröstet die Nichte, die sich schmutzig und verworfen vorkommt. Sie zeigt sich voller Verständnis für menschliche Schwächen und Abgründe und tut so, als hieße alles verstehen alles verzeihen.

Das alles kann sie, weil sie Wehleidigkeit und Selbstmitleid bei sich selber nicht zulässt. Sie hat gelernt, das Leben klaglos zu nehmen wie es ist, wie es kommt und geht: „ich habe es ja so gewollt!“ Sie steht zu dem Leben, ihrem Leben, das sie geführt hat. Weil alles so kommt, wie es kommt, hat man zu tun, was ansteht: was einem das Leben aufgibt. So vermag Jeanne, „so gut es geht, mit sich selber in Frieden zu leben“. 
Vermag sie es wirklich?

In der Schlussszene des Romans hat sie sich entschlossen, ihren hilflosen, aus dem eigenen Haus vertriebenen Lieben in Zukunft den Haushalt zu führen. Wird sie das können? Erst einmal liegt sie selber danieder, mit ihren angeschwollenen Beinen und wartet auf den Krankenwagen, der sie in eine Klinik bringen soll. Da lässt sie ihre Jugendfreundin eine Flasche Kognak aus einem Geheimdepot ihrer Schwägerin holen und leert sie rasch bis auf den Grund.

Nina Heick

Die Suche nach der verlorenen Zeit (aus: Hinz&Kunzt 239/Januar 2013)

Ich möchte eine Geschichte erzählen. Meine Geschichte mit einem Menschen, den ich liebte. Von einem Menschen, der viele Jahre gegen die Verzweiflung und gegen die Kälte in seinem Leben kämpfte. Einem Menschen, der es trotz Hoffnung und Willen nicht schaffte, seiner Alkoholsucht und dem Tod zu entkommen. Dieser Mensch war mein Vater.

Vier Jahre ist es nun schon her. Er starb am 22. Dezember 2008. Ich erfuhr es erst am zweiten Weihnachtstag, am Telefon. Meine Adoptivmutter verfolgte mein Gespräch mit dem Chefarzt der Asklepios- Klinik-Harburg und trat – die Hände vors Gesicht geschlagen – hinter mich. Sie weinte, während ich erstarrte. Warum?, fragte ich mich. Warum jetzt? Erst vor Kurzem hatte ich dich wiedergefunden, Papa. Und jetzt warst du fort, für immer. Meine Adoptivmutter legte die Arme um meinen Körper und hielt mich. Ganz lange, ganz fest. Und endlich konnte auch ich meine Trauer zulassen. Jetzt war es also vorbei. Meine Suche fand hier ein Ende. Die Suche nach dir, Papa, und nach der verlorenen Zeit – der Zeit, die ich so gerne zusammen mit dir verbracht hätte.

Heute bin ich 26. Ich war fünf, als ich durch einen Beschluss des Jugendamts in ein Kinderheim kam. Vorher lebte ich bei meinem Vater in Altona. Meine Mutter hatte uns verlassen, als ich gerade anderthalb war. Sie wollte mich nicht haben, und ich habe auch heute keinen Kontakt zu ihr. Doch für meinen Vater war ich ein Wunschkind. Er sehnte sich nach einer kleinen Familie, nach einem Stück Normalität. Schon damals war er dem Alkohol und den Drogen verfallen. Angefangen hatte es während seiner Zeit beim Bund, als er unglücklich verliebt war. Um seiner damaligen Freundin mehr bieten zu können, verschuldete er sich stark. Dennoch verließ sie ihn, was er bis an sein Lebensende nicht verkraftet hatte. Noch bei unserem letzten Treffen erzählte er von ihr. Genau wie von seinem Vater, der ebenfalls an den Folgen von Alkoholsucht gestorben war. Bis heute leide ich darunter. Liegt diese Sucht in unseren Genen, Papa? Ich weiß, ich muss aufpassen, ich war auch schon viel zu nahe dran …

Ich habe nicht viele Erinnerungen an die Zeit mit meinem Vater. Von Verwandten und Mitarbeitern des Jugendamts ­habe ich gehört, dass ich wohl öfter im Kindergarten vergessen wurde. Ich hatte häufig schmutzige Pullis an und roch unfrisch. Meine Zähne waren ungepflegt, weil ich mich weigerte, sie mir putzen zu lassen. Ich hatte Angst vor Wasser.

Oft war es meine Oma, Papas Mutter, die dafür sorgte, dass ich ausreichend zu essen hatte oder ab und zu neue Kleidung bekam. Wenn Papas Saufkumpane vorbeikamen, reihten sich auf dem Küchentisch die Biergläser aneinander, an denen ich nippte. Ich war ständig allein, daran erinnere ich mich. War ich oft traurig? Vielleicht. Aber was ich mit Sicherheit weiß: Mein Vater gab mir trotz allem viel Wärme und Liebe mit auf den Weg. Er wurde niemals laut, niemals gewalttätig – und er schämte sich dafür, nicht für mich sorgen zu können. Er konnte es selbst nicht wahrhaben, einfach keine Kraft zu haben, sich um mich richtig zu kümmern.

So kam ich also ins Heim. Ich fühlte mich wohl dort, fand schnell Freunde. Eine Sozialarbeiterin veranlasste einige Treffen zwischen meinem Vater und mir. Er erschien nicht immer, manchmal war er zu betrunken oder auf der Flucht vor der Polizei – um an Geld zu kommen, beging er mehrere Diebstähle. Kurz vor meiner Einschulung, als er gerade wieder einmal auf der Flucht war, schrieb er mir einen Brief.„Du wirst sicher schon geglaubt haben, ich hätte dich vergessen“, heißt es darin gleich zu Anfang. „Dem ist aber nicht so – im Gegenteil. Ich denke sehr, sehr oft an dich. Ich vermisse dich sehr.“

Als ich acht war, besuchte ich ihn einmal im Knast. Die Umgebung war mir unheimlich, doch als ich zu Papa auf den Schoß durfte und er mir Papier und Malstifte schenkte, war ­alles gut. Ich war glücklich. Zehn Jahre dauerte es dann, bis ich wieder von ihm hörte. In der Zwischenzeit kam ich zu Pflegeeltern, die mich später adoptierten. Endlich bekam ich eine Mama! Sie ist bis heute die wichtigste Person in meinem Leben. Ich kenne keinen Menschen, der sich so sehr um das eigene Kind bemüht wie sie. Zu meinem Adoptivvater hatte ich allerdings kein so gutes ­Verhältnis – einen Papa hatte ich ja auch schon. Und was für mich das Schlimmste war: Meinem Adoptivvater missfiel der Kontakt zu meinem richtigen Papa. Er fand ihn asozial.

Als Kind half ich mir damit, die Vergangenheit komplett auszublenden. Vor meinen Schulfreunden verheimlichte ich meine wahre Geschichte. Es war mir schon immer egal, was andere dachten, allerdings glaubte ich inzwischen selbst an mein neues Leben. Doch in der Pubertät kam alles wieder hoch. Ich spürte, dass ein Teil von mir fehlte. Ein Teil, der mich zu einem Ganzen gemacht hätte. Ich stellte Fragen. ­Fragen nach dir, Papa. Ich bat das Jugendamt, das weiterhin Kontakt zu meinem Vater hatte, um Hilfe. Aber dort riet man mir, ich solle ihn lieber von früheren Zeiten in Erinnerung behalten – mittlerweile sei er durch den Alkohol- und Drogenkonsum schon so krank, dass es kein schönes Wiedersehen würde. Ich war mit meiner Kraft am Ende und wütend über diese oberflächliche Bemerkung. So kam es, dass ich selber krank wurde – seelisch und körperlich. Und ich trank auch. Zu viel. Bis ich 2006 die Reißleine zog und freiwillig für mehrere Monate in ­eine Klinik ging. Langsam rappelte ich mich wieder auf und spürte jeden Tag mehr: Egal wie es dir geht, Papa, ich möchte, ich muss dich wiedersehen! Tatsächlich half mir das Jugendamt dabei, endlich wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ich erfuhr, dass er eine Verlobte hatte und mit dieser einen Sohn. Ich erfuhr aber auch, dass er weiterhin nicht gegen seine Sucht ankam und zeitweilig auf der Straße lebte. Seine Verlobte war ebenfalls abhängig, der Junge lebte wie ich früher in einem Heim. Als ich mit meinem Vater telefonierte versprach er, mich in der Klinik zu besuchen. Dann kam der Tag, endlich! Doch mein Vater kam nicht. Ich war am Boden zerstört. Denn bis dahin hatte ich ihm trotz allem immer vertraut, so wenig wir uns auch kannten. Ich hatte nie an ihm gezweifelt. Hattest du mich jetzt verraten, Papa? War ich dir doch egal? Das konnte ich nicht glauben.

So war es auch nicht – ganz und gar nicht, wie ich kurz darauf erfuhr: Mein Vater war auf dem Weg zu mir zusammengebrochen – er lag jetzt in der gleichen Klinik wie ich, nur auf einer anderen Station.

Ich rannte zu dir so schnell ich konnte. So viele Fragen wollte ich dir stellen! Zu deiner Vergangenheit, zu meiner Vergangenheit, zu uns. Aber an Papas Bett war ich wie ­gelähmt. Er war vollgepumpt mit Schmerzmitteln, lag völlig reglos da. Nur seine Augen verrieten die Freude, mich endlich wiederzusehen. Leider war die Zuversicht nicht so groß wie seine Angst vor Krankenhäusern. Er hasste es dort. Und ­sobald es ihm wieder etwas besser ging, büxte er aus. Zum zweiten Mal verschwand er aus meinem Leben. Einfach so. Dieses Mal für immer? Das wollte ich nicht akzeptieren. Ich machte mich wieder auf die Suche, was gar nicht so einfach war, da auch die Polizei erfolglos nach ihm fahndete. Mein Vater war einmal mehr auf der Flucht. So machte ich mich eigenständig auf den Weg und klapperte Hamburgs Straßen und Obdachloseneinrichtungen ab. Ich verteilte Flugblätter mit Papas Daten und seinem Bild darauf, unterhielt mich mit zig hilfsbereiten Obdachlosen und Hinz&Kunzt-Verkäufern – vielleicht hatte er hier ja Zeitungen verkauft? Jede neue Ausgabe, die ich in die Hände bekam, blätterte ich mit zitternden Händen bis zu den Todesanzeigen durch, befürchtete stets das Schlimmste. Doch es gab kein Zeichen von dir, Papa, weder ein Lebens- noch ein Todeszeichen. Also suchte ich weiter.

Im März 2008 schrieb ich meinem Vater in Gedanken einen Brief. „Ich bin und bleibe deine Tochter, die dich liebt“, erklärte ich ihm darin. „Trotz aller Schwächen, die du hast. Du bist ein Teil von mir, ich bin ein Teil von dir.“ Das gilt auch heute noch, nach seinem Tod. Schaue ich in den Spiegel, sehe ich seine Augen in meinen, ich höre seine Stimme, wenn ich spreche. Mein Vater hat viele Freunde ­verloren, sich durch seine Sucht einiges kaputtgemacht. „Aber mich hast du nie verloren“, sage ich in Gedanken zu ihm. Da sind keine Vorwürfe in mir, keine Wut gegenüber meinem ­Vater. Ich wollte ihn damals einfach wiedersehen, ihn fest­halten, solange es noch ging.

Im November 2008 hatte ich endlich Glück: Ich traf in Harburg einen Obdachlosen, der meinen Vater kannte und ein Treffen organisierte. Zittrig kam ich auf den Harburger Rathausmarkt und fand dort den Trinkkollegen, Papa und seine Verlobte vor. Der Mund meines Vaters stand weit offen, er blickte leer und staunend drein – die Augen glasig, das Gesicht gelb und aufgedunsen durch Hepatitis und Leberzirrhose. Er sah schlecht aus, ungepflegt und zeigte erste Anzeichen einer Demenz. Wir umarmten uns innig, während die anderen zwei uns rücksichtsvoll allein ließen.

Wir sprachen nicht viel. Papa wirkte müde und erschöpft. Er litt unter heftigen Bauchschmerzen, die von einer inneren Blutung herrührten, weil er gestürzt war. Ich erzählte ein bisschen aus meinem Leben, er erzählte aus seinem – von seiner Verlobten, dem ­gemeinsamen Sohn, der nun zwölf sein musste und psychologisch betreut wurde; von der Sehnsucht nach einem normalen Leben, dem Wunsch eines Familienzusammenhalts und von Unabhängigkeit. Es gab keine Vergangenheit – die Gegenwart zählte. Papa öffnete sein Bier, ich kaufte ihm sein ­geliebtes Erdbeereis; wir schlenderten durch die Arkaden; ich lud ihn auf einen Hamburger ein und besorgte Schmerzmittel. Ich bemerkte viele verächtliche Blicke von der Seite, die ich erbost erwiderte und Paps demonstrativ noch fester an mich drückte. Wir machten Pläne, sprachen von gemeinsamen Theater- und Musicalbesuchen. Ich werde nie vergessen, wie er mir ins Gesicht sah – der Blick wie blind und doch im tiefsten Inneren warm und liebevoll. Mit dem verborgenen Glanz eines gut aussehenden, fröhlichen Mannes – während er in sich zusammengefallen, heiser – beinahe krächzend – zu mir sagte: „Ich bin so stolz auf dich, meine Kleine!“

Nach dem Treffen war ich wie versteinert. Ich wollte ­weinen – vergebens. Ich wusste nicht, was ich dachte – ob ich dachte. Vakuum. Ich spürte mich nicht. Ich fühlte nichts. ­Einen Monat dauerte es, bis ich die Kraft fand, Papas Verlobte anzurufen, um nach meinem Vater zu fragen und um ein zweites Wiedersehen zu bitten. Doch alles, was ich erhielt, war die lallende Auskunft, er befände sich in der Harburger Klinik. Am zweiten Weihnachtstag rief ich dort an. Zu spät.

Ende Januar war die Beerdigung. Ich las dir ein langes Gedicht vor, Paps, hast du es gehört? „Abschied“ habe ich es genannt. In einer Strophe frage ich: „Wie soll ich den Gedanken ertragen, dich nie wirklich gehabt zu haben? Wie soll ich die Erkenntnis besiegen, nie wieder in deinen Armen zu liegen?“ Dann hörten wir „Time to say goodbye“ – der Text ließ mir keine Ruhe, die Bedeutung fraß sich in mein Gedächtnis. Es ist Zeit, zu gehen, es ist Zeit, loszulassen. Kann ich das? Bis heute vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meinen Vater denke. Die Beerdigung war furchtbar. Die Grabstelle von Papa: so winzig zwischen all den prachtvollen Steinen, wie ich sie mir nicht hätte leisten können. Eine gegrabene Kuhle – ummauert, mehr nicht. Ich dachte, er käme in pure Erde, nicht in so einen Mauerschacht! An Seilen wurde Paps hinuntergelassen. Eingelocht. Knast. Als wenn er nicht lang genug gesessen hätte.

Ich warf das Gedicht und das letzte Foto von ihm und mir auf sein neues Zuhause. Damit du da unten nicht alleine bist, Papa! Das Foto fiel auf den Rücken und am Sarg vorbei. Ich fluchte. Dann ging ich nach Hause. In mein neues ­Leben, für immer ohne dich. In meinem Kopf summte ich ein Lied von Frank Sinatra, das ich mir für meinen Vater auf der Beerdigung gewünscht hatte: „My way“.

Harald Köhl

Alles ist soooo langweilig!

Sobald ich kein Buch … in der Hand halte
oder nicht davon träume, eines zu schreiben,
überkommt mich eine solche Langeweile,
dass ich laut schreien möchte.
Gustav Flauber

Wer sich langweilt, kommt leider oft auf die Idee, dem abzuhelfen: durch ein Glas Wein oder noch eines, oder durch ein anderes „Genussmittel“. Wenn Suchtkranke sich anhaltend langweilen, laufen sie Gefahr, zurückzufallen in die Sucht. Was aber hilft gegen die Langeweile?  Klar doch: ein gutes Buch! Oder eine Erzählung des russischen Schriftstellers Anton Cechov, in welcher er die Langeweile faszinierend genau beschreibt.

Der Zemstvo-Vorsitzende Egor Federoyc Smachin stand am Fenster und trommelte wütend mit die Fingern an die Scheiben. Die Langsamkeit, mit der die Stunden und Minuten in die Ewigkeit hinübergingen, brachte ihn in erbitterte Verzweiflung … Zweimal hatte er sich schon schlafen gelegt und war wieder aufgewacht, zweimal hatte er sich ans Essen gemacht und an die sechsmal Tee getrunken, aber immer noch neigte der Tag dem Abend zu. Die Aussicht, die sich vor dem Auge des Vorsitzenden ausbreitete, schien ihm grau und langweilig. (…) Smachin fühlte sich wie im Gefängnis … Lange blieb er am Fenster stehen … (…)

Auf dem Tisch lag neben der Lampe und dem Aschenbecher ein Album. Smachin hatte dieses Album schon tausendmal angesehen, aber aus Langeweile zog er es zu sich heran und betrachtete zum tausendundersten Mal die Bilder. (…) Die Uhr schlug halb sieben. Smachin erhob sich vom Sofa, ging auf und ab und blieb schließlich ohne jeden Zweck mitten im Zimmer stehen.

Wenn man auf einem Bauernhof sitzt und wartet, dachte er, so hat man immerhin die Hoffnung, daß jeden Augenblick der Zug kommt, mit dem man wegfährt, aber hier wartet man ohne Ziel, ohne Ende … es ist zum Aufhängen, weiß der Teufel … (…)

Smachin blickte auf die Uhr: es war erst zehn Minuten vor sieben … Bis zum Abendessen und bis zur Nacht blieben noch etwas 5 Stunden … An das Fenster schlugen große Regentropfen … Im Garten brüllte heiser und wehmütig die schwarze Kuh, und das Rauschen des dahineilenden Flusses war so eintönig und melancholisch wie schon vor einer Stunde. Smachin winkte resigniert ab (…) und schleppte sich ziellos in sein Arbeitszimmer.

Mein Gott, dachte er. Die anderen machen, wenn sie Langeweile haben, Laubsägearbeiten, befassen sich mit Spiritismus, kurieren die Bauern mit Rizinus, schreiben Tagebücher, nur ich bin so unglücklich und besitze kein Talent … Was soll ich jetzt tun? Ich bin Zemstvo-Vorsitzender, ehrenamtlicher Friedensrichter, Gutsbesitzer und … trotzdem finde ich nichts, um die Zeit totzuschlagen … Ob ich vielleicht was lese?

Smachin trat zu einem Regal, das mit allerlei Bücherkram vollgestopft war (…)

‚Ein Adelsnest?‘ Von wem ist das? Aha! Von Turgenev! Habe ich schon gelesen … Erinnere mich … Habe vergessen, worum’s sich handelt, also kann ich’s ruhig noch mal lesen … Turgenev schreibt ausgezeichnet … tja …

Smachin streckte sich auf dem Sofa aus und begann zu lesen … Und seine unruhevolle Seele fand Ruhe bei dem großen Schriftsteller. (…)

So weit erst einmal Anton Cechov.1 Den Rest seiner Erzählung hätte ich am liebsten unterschlagen:

Nach zehn Minuten betrat Iljuska (sein Diener – Einf. H.K.) auf Zehenspitzen das Arbeitszimmer, er legte dem Herrn ein Kissen unter den Kopf und nahm das geöffnete Buch von seiner Brust … Der Herr schnarchte …

Das Adelsnest habe ich noch nicht gelesen (ich hab’s also vor). Aber Turgenjew – der Großmeister der Novelle (‚Erste Liebe‘), der Vater von Väter und Söhne  und ‚Erfinder’ des Nihilismus: ein Schlafmittel?

Kaum zu glauben – aber einen Versuch ist es wert.

1 Vgl. Cechov, Hoffnungslos, in der., Ein unbedeutender Mensch, Erzählungen. Zürich 1976

Harald Köhl

Ärgerlicher Ärger

„Warum verderben Sie sich mit sowas die Tage,
hatte Doxidas gesagt, als er sah,
wie ihn der Ärger auffraß.“
(Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon)

Damit wir mit unserem Ärger umzugehen lernten, haben sie uns, als wir klein waren, das Mensch ärgere dich nicht! beigebracht. Aber was haben wir uns geärgert! Im Laufe des Lebens machten wir Bekanntschaft mit einer Fülle von Ärgernissen. Denn weder aus Einzeldingen, noch aus Tatsachen scheint die Welt zu bestehen. Vielmehr aus Anlässen, sich zu ärgern!

Eben: ein Ärger kommt selten allein. Er pflanzt sich fort, indem er uns andere Ärgernisse erkennen läßt. Ist nicht, am Ende, einfach alles ärgerlich?

Die Sprache weiß gut Bescheid über unseren Kummer mit dem Ärger. „ich ärgere mich wahnsinnig!“ Weil ein Ärgernis einen schier in den Wahnsinn treibt? Oder weil so ein arger Ärger selber eine Form des Wahnsinns ist? Wenn wir uns über etwas oder über jemanden ärgern, dann lassen wir das Ärgerliche an uns heran; wir lassen es zu, dass uns etwas ärgert. Manchmal maßlos ärgert. Ja, der Ärger kennt kein Maß, wir können nicht Maß halten in unserem Ärger. Wie ein Süchtiger erleidet ein Ärgerlicher einen Kontrollverlust, auch das ist das Arge am Ärger, natürlich nicht nur er setzt ein Fragezeichen hinter unsere Selbstbestimmungs-Ambitionen. Nicht wir beherrschen ihn, er ist es, der uns beherrscht. Wir verlieren nur die Beherrschung. – Es kommt noch ärger:

„Dein Ärger frisst dich noch auf!“ – wo einer ihn zuvor in sich hineingefressen hat. Wenn aber einer aufgefressen wurde, gibt es ihn nicht mehr. Im Sich-Ärgern verlieren wir uns selber, gehen verloren und sind verloren. Wer ganz darin aufgeht, ist nicht bei sich, ist außer sich: vor Ärger. Insoweit wir, wenn wir uns ärgern, nicht mehr vorhanden sind, sind Episode des Sich-Ärgerns nicht Teile eines lebendig gelebten Lebens. Vergeudete Lebenszeit eben.

Wir alle wissen, so wie Prado (in Pascal Merciers Nachtzug) es wußte, dass wir in unserem Leben „zuviel, viel zuviel Kraft und Zeit darauf verschwendet haben, uns zu ärgern.c1  Verschwendet, weil der Ärger unnütz zu sein scheint. Zu nichts gut, vielmehr hinderlich: Wir können, so lange wir uns ärgern, unsere Zeit nicht nutzen für lebenswichtige Lebensanliegen.

Prado wußte aber auch um die Erkenntnisfunktion des Ärgers: der uns etwas darüber lehre, „wer wir sind“.2  Er ließ uns allerdings raten, was der Ärger uns über uns verrät. Nun, wir lernen uns dabei als jemanden kennen, der bestimmte Dinge ärgerlich findet: Dinge, die er ablehnt, die ihn abstoßen, nerven, stören, aufregen, die ihm übel aufstoßen, auf den Geist gehen. An dem, was uns ärgert, erkennen wir, was wir so gar nicht zu schätzen wissen. So dass wir uns ärgern.

Wo ich mich über andere Menschen ärgere, kann ich daran ablesen, wie ich selber nicht sein möchte – und wie ich gern sein möchte. Es sind da überraschende Entwicklungen zu machen. Wenn ich mich drüber ärgere, dass ein anderes WG-Mitglied nach dem Frühstück den Küchentisch nicht abwischt, dann lege ich offenbar Wert auf einen sauberen Tisch und auf ein gewisses Maß an Ordentlichkeit. Meine Verärgerung lässt mich also zum Teil wenigstens erkennen, was für mich von Bedeutung ist. Wenn ich mich über einen verspäteten Zug ärgere, liegt mir offenbar an seiner pünktlichen Ankunft oder Abfahrt, vielleicht habe ich generell was übrig für pünktliche Züge und Pünktlichkeit. – Jedenfalls sind wir, wenn wir uns ärgern, mit uns selber konfrontiert.

Was für mich gilt, gilt natürlich auf für die Anderen; als Lehrmeister ist der Ärger ein Demokrat. Ihr Ärger läßt erkennen, was für Sie ein Ärgernis ist, was Sie gar nicht witzig finden, was Sie nicht abkönnen. Aber auch: was Sie zu schätzen wissen, worauf es Ihnen ankommt, was Ihnen wichtig ist.

Aber sollte man das alles nicht auch herausfinden können: ohne sich zu ärgern? Vielleicht schon. Wäre es dann nicht sinnvoll, sich den Ärger zu ersparen, sich die ganze Ärgere ein für alle Mal abzugewöhnen? Das kommt darauf an. Möchten wir gerne coole Typen sein, denen nichts etwas ausmacht, wenn ihnen etwas daneben geht oder wenn ihnen von Seiten anderer oder der Welt etwas Widerwärtiges widerfährt? „Wesen, deren Bewertungen sich in kühlen, blutleeren Urteilen erschöpften, ohne dass etwas sie aufzuwühlen vermöchte, weil nichts sie wirklich kümmerte?“: um ein letztes Mal Prado herbeizuzitieren. Oder wollen wir Mitmenschen sein, die emotional und engagiert Anteil nehmen am Verhalten und Sosein anderer und am Lauf der Welt?

Falls mein Kapitelchen über den Ärger Sie, meine Leserinnen und Leser, geärgert haben sollte, dann schlucken Sie ihn nicht hinunter. Sie werden ihn auch nicht einfach abschütteln, auf die Schnelle loswerden können. ‚Man soll einer Versuchung nachgaben, denn man weiß nicht, ob sie wieder kommt‘: wußte Oscar Wilde. Vielleicht ist es ja so auch mit dem Ärger? Nein: der kehrt wieder! Also ärgern Sie sich ruhig (von wegen ruhig:-)), von mir aus über das unnötige und unpassende Wilde-Zitat; machen Sie Ihrem Ärger Luft und lassen ihm freien Lauf. Bis er verraucht ist. So verraucht, wie ärgerlicher Weise das Arbeitszimmer, in dem ich mir den Ärger von der Seele geschrieben habe.

1 vgl. Mercier: 434
2 vgl, ebd. 433

NEBLIGER TAG

Anonym, alkoholabhängig

Morgens 6 Uhr, mein Handywecker klingelt. Ich komme langsam zu mir und denke, oh nein ich kann jetzt nicht aufstehen und drücke auf die Schlummerfunktion. Alle 8 Minuten wieder, nachdem dritten Mal spüre ich langsam wie erschöpft mein Körper und match meine Birne ist. Wieder etwas zu viel getrunken gestern.

Zwischen 7–8 Uhr stehe ich auf. Einige Gegenstände sind umgeschmissen, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht kriege ich ein paar Fetzen im Laufe des Tages wieder zusammen. Zuerst einmal brauche ich einen Latte und eine Kippe, dazu wird etwas gezockt. Nach einer weiteren Stunde mach ich mich fertig. Beim Zähneputzen kommt mir das Kotzen, wie lecker. Anschließend zurück auf die Couch. Ich fahr den Computer hoch und check mein Bild in der der Kamera, man seh ich übel aus. Also ein klein wenig schminken. Da ich bald eine Videokonferenz habe und nicht möchte das man sieht, wie sehr ich zittere (falls etwas kommt was mich aufregt), nehme ich vorsichtshalber eine halbe Tablette zur Beruhigung. Die Außentermine habe ich eh auf den Nachmittag gelegt und zur Not lass ich mich vertreten.

Heute trinke ich nicht, nehme ich mir fest vor!

Nachdem Meeting erledige ich einige Calls, stimme mich mit Kollegen ab und beantworte E-Mails. Ehe ich mich versehe, ist es 17 Uhr.

Man war das wieder ein anstrengender Tag, ich habe mir was zur Entspannung verdient. Erstmal schnell zu Netto Wein kaufen und vielleicht noch etwas zum Essen. Gedacht, getan, die erste Weisweinschorle wird eingeschenkt. Bevor ich losging, habe ich noch meine Eiswürfelmaschine eingeschaltet und nun ist alles zum Runterkommen fertig. Während des Trinkens erledige ich noch ein paar Calls und dann ist Schluss mit Arbeit. Nun wird noch kurz privat telefoniert und dann eine Serie eingeschaltet. Nach kurzer Zeit ist die erste Flasche leer. Innerhalb einer guten Stunde die Zweite. Nun kommt der Gedanke ob die letzte reicht, oder ich lieber noch eine hole bevor ich zu sehr taumel. Ich flitze los, sicher ist sicher. Beruhigt trinke ich weiter und öffne kurz danach die Dritte, nun kann ich ganz in Ruhe relaxen.

In der Regel kriege ich von Serien und Filmen dann nicht mehr so viel mit und erinnere mich kaum an den Rest. Meistens trinke ich so lange bis ich mich kaum noch wachhalten kann und geh ins Bett.

Rita, 55, alkoholunabhängig

Schon morgens um 7 ist die Welt nicht mehr Ordnung – Die Geschichte von den 10 Lügen an einem ganz normalen Tag.

Es ist 7:00.
P. ist schon wach, ich möchte lieber noch weiterschlafen, obwohl ich schon um 21:00 geschlafen habe. Ich fühle mich zerschlagen, erschöpft, genervt und von Schulgefühlen geplagt. Morgenkaffee ist meine Runde. Es ist doch eigentlich schön, gemeinsam in den Tag zu starten. Eigentlich. Katzenwäsche. Bloss nicht in den Spiegel schauen. Ich sollte sie alle verhängen.

Der Kaffee ist fertig. P. schaut schon NTV.
„Danke, Liebchen.“ sagt er kühl. Scheiße, wenn er mich so nennt, ist dicke Luft, wie auch schon gestern.
„Wie gehts Dir heute?“„Gut“ (1. Lüge)

Schweigen, breaking news rauschen statt dessen durch den Raum.
Ich gehe raus zum Rauchen. Schweigen bis P. das Haus verlässt.

„Bitte versuche heute vormittags nichts zu trinken“
„Klar“ (2. Lüge)
Ich beginne mißmutig mit meinen Hausfrauenputzritualen, die lenken mich ab und beruhigen mich ein wenig. Danach möchte heute Morgen unbedingt ein paar OrgaSachen in Ruhe abhaken. (3. Lüge, diesmal mir selbst gegenüber). Grob und unmotiviert gehe ich gedanklich alle to dos durch, darunter wie eigentlich schon die ganzen letzten Tage: Steuererklärung, Antwortmails an Bekannte/Freunde, Drucker anschließen, Postbox aufräumen … Puh. Ich starre diese Liste lange an.

Zigarette, Kaffee, Zigarette, Kaffee …
Ich tigere in immer kleineren Kreisen um die Kühlschrank herum. Gin/Wein?? Gesund wäre jetzt Frühstück ermahne ich mich.

Also Gin. Oma hat ja auch immer um 11:00 Schnaps getrunken und ist steinalt geworden
Bei mir ist es allerdings doch erst 10:00. (4. Lüge, es ist noch nicht 10:00)
Softes Mixverhältniss. Ich nehme zudem extra ein kleineres Glas. Mein Bauch wird warm.

Noch ein kleiner Gin, denke ich. (5. Lüge, denn ich mixe mir einen ganz normal großen), Zigarette. Meine Gedanke schweifen ab, ich surfe mit ihnen und frage Dr. Google, dies und das, verzetteln mich dort.

Es ist 11:30. Scheiße, Schreck. P. ist bestimmt schon auf dem Rückweg. Ich rufe ihn an: Faktencheck. „Wo bist du gerade?“ (6. Lüge). Die richtige Frage wäre gewesen: „wie lange brauchst du noch?“ Gekoppelt „wieviel Zeit bleibt mir noch?“.
Besser ist es, jetzt mit dem Walken zu starten, dann habe ich wieder mind. 1 Stunde Zeit, um wieder klarer zu werden. P. hat gekocht, ich nehme mein Essen mit ins Schlafzimmer, ich kann die dicke Luft nicht ertragen. Schlafe ein.

Krach!!, die Tür geht auf: „RIIIIIIIIITA!!!!“
J. 3 Jahre, stürmt wie die GSG 9 ins Schlafzimmer.
1000 Volt strahlende Lebensfreude stürmt das Bett.
Stutzt. „Rita, du traurig??“
„Nein!!! Quatsch !!!! (7. Lüge), ich tobe mit ihr etwas zu albern rum.

Zwischen Tür und Angel, bekomme ich die Info, dass wir heute Abend Gäste zum Abendessen haben werden. OMG!!! Vielleicht entspannt das die Situation hier aber auch wieder etwas, denke ich, P. kann noch mal einkaufen fahren, kochen, sich ablenken. Natürlich trinke ich zum Abendessen alkoholfreies Bier. Ich bin schweigsam, nicht gestimmt für Konversation, auch äußerlich nicht gesellschaftsfähig, egal: Coronazeit ist Homewarezeit.

Gehe wiederholt draussen Rauchen (8.Lüge, da ich ja nur an die heimlichen Reserven will). Aufräumen, ich bin müde, 20:30 bin ich im Bett. Morgen trinke ich definitiv nichts (9. Lüge). Und mache auf alle Fälle die Orga (10. Lüge.)

Von Harry van den Zweebrigge

So ein nasser Tag! (Mai 2021)

Einer? – Auf einem Bein kann man nicht stehen. Auf zweien, wie alle richtigen Trinker wissen, geht es auch nicht immer. Also drei müssen es schon sein!

Dabei fing der Tag so gut an! – Es war in Berlin, Berlin Mitte, dort liegt die Humbolds-Universität. Ein grauer Montag Anfang Januar. Aber der Hörsaal war voll – morgens um acht! Damals in Heidelberg wären wir Studenten noch im Ski-Urlaub gewesen. Alle waren sie da, auch die schöne Rebecca in ihren Pumps, als Oberteil so was Getigertes. Sowas beflügelt meinen pädagogischen Eros. Auftritt des Punk-Pärchens, wie immer etwas zu spät und wie gerade dem Lotterbett entstiegen.

Ich hielt nicht inne in meinem Vortrag, so wie ein berühmter Germanistik-Professor es in solchen Fälle tat: er verfolgte die zu spät gekommenen Übeltäter mit seinem Blick bis zu ihrem Platz. Wie peinlich! Das im Sinn rief ich stattdessen: Guten Morgen!

Nach der Vorlesung ging es, wie gewöhnlich, in die Cafeteria; ein alkoholfreier Raum. Dann war es auch 11, Zeit für eine kleines Schlückchen in der Qba, Rebecca war mit von der Partie. Dass man mit solchen Stöckelschuhen laufen kann! Manchmal hakte sie sich bei mir ein. Keine Sorge, für einen Dozenten mit meiner Berufsauffassung sind Studentinnen tabu. Meistens.

Ach ja, die Qba! Schreibt sich Q b a. An meinem ersten Berliner Abend habe ich das kubanische Lokal entdeckt. Es liegt im „anständigen“ Teil der Oranienburg Straße. Bald war ich dort Stammgast. Zunächst nur am Montag-Abend, nach meinem Seminar eilte ich dort hin. Später täglich, abends und mittags: die Qba wurde mein Berliner Zuhause. Am dritten Dienstag hatten sie für mich eine Tischlein reserviert. Dass ich Professor war, erfuhren sie nie.

Ich kann mich doch am helllichten Tag und in Gegenwart einer Studentin nicht betrinken! Also nur 2 Gläser von dem schweren kubanischen Rotwein. Nach dem Essen im Gästehaus der HU, wo ich logierte. Dort noch ein Glas von dem roten Bordeaux  – und dann Mittagsschlaf.

Abends um 6 noch ein Seminar. Davor gerät ich, ich weiß nicht wie, in die Qba. Zwei Gläser vorm Seminar? Also Kontrollverlust. Ich schlich mich in die Uni und hing einen Zettel an die Seminar-Tür: „Seminar fällt wg. Krankheit aus“ Das war nicht mal gelogen: Kein Student, kein Kollege hat mich gesehen. Glück gehabt! Glück gehabt?

Wo trieb es mich hin, so voller Scham? Erraten, in die Qba! Es hatte sich eingebürgert, dass ich abends dem pakistanischen Rosenverkäufer ein Rose abkaufte, manchmal auch drei. Die schöne kubanische Bedienung mit den runden Hüften stellte sie wie eine Trophäe auf den Tresen. Nicht nur nach einigen Gläsern Rotwein bin ich ein Rosenkavalier! An den ockerfarbenen Wänden der Qba hingen die sepiabraunen Fotos der Kampfgefährten Castro und Che. Wendig kubanische Combo das Lied „Commandante Che Guevara“ sang uns spielte, war im Raum immer diese andächtige Stille.– Jetzt eine Havanna, das wär’s. Wirkich betrunkene Gäste gab es in der Qba nicht. Den Rest gab ich mir also im Gästehaus.

Es folgt ein gang nach Canossa, nein: ins „Canossa“. Das war die Disco im Keller der Humboldt. Mein Seminar musste diesmal aus einem besseren Grunde ausfallen, stattdessen sahen wir im Canossa das Handball-Spiel Deutschland gegen Frankreich. Der Mann hinterm Tresen kannte mich schon, ein schwuler Mann aus der Pfalz. Mit beiden Bevölkerungsgruppen kann ich gut. Bisweilen trank ich dort das eine oder andere Bier. Nur Berliner Weiße mit Schuss, das nie! An diesem Abend bevorzugte ich den Grauen Burgunder. Und tanzte mit meinen hochgewachsenen Studentinnen Foxtrott. Foxtrott-Tanzen ist eine der wenigen Sachen, die ich gut kann. Als meine Studentinnen schon gegangen waren, tanzte ich immer noch. Allein. Und gab mir dann im Gästehaus den Rest.

Wiener Walzer dagegen tanze ich nie mehr. Habe ich doch dabei, aber nur einmal, mit reichlich Edelzwicker im Blut, eine Kollegin gegen einen Heizkörper geschleudert. Das Geräusch vergißt man nie. Sie hat es überlebt. Später war sie dann bei den Grünen.

Unvergessen auch der Foxtrott im Waldhaus zu Sils Maria im Oberengadin. Ein Hotel-Palast von 1910, großbürgerliches Milieu. Prominente Gäste, die Zimmer unbezahlbar. Aber ein offenes Haus. Wir kamen abends von einer Wanderung im Fextalund kehrten dort ein. Man trinkt im Engadin den Roten Veltliner. Wie an jedem Abend spielte die polnische Combo zum Tanz. Am Ende nur noch für uns. Für einen Foxtrott muss ich mir eigentlich keinen Mut antrinken, ich tat es doch. Meine Begleiterin war nämlich die Regula, eine gertenschlanke Oboistin aus Zürich. Wir tanzten, in Wanderschuhen, so doll, dass alle anderen Tänzer, zumeist alte Lemuren, zu tanzen aufhörten und fassungslos um uns herumstanden.

In der Teeküche des Nietzsche-Hauses, in dem wir beide wohnten, tranken wir dann noch mehr als eine Flasche von meinem Veltliner. Marke „Inferno“, auf Deutsch: die Hölle. Es zeigte sich leider, dass die schöne Regula schon verheiratet war und auch schon einen Geliebten hatte, einen drittklassigen Geiger. In meinem Zimmer nahe dem Räumchen, in dem in einem früheren Jahrhundert der Philosoph Nietzsche hauste, ertränkte ich meinen Schmerz.

EIN nasser Tag sollte es sein? An einen allein kann ich mich nicht erinnern!

Anja, 35, alkoholabhängig

Scheiß Tag

Ich stehe um 7:30 Uhr auf, weil ich mich schon seit 3 Uhr herumwälze. Zuviel getrunken gestern. Sehr unausgeruht und verkatert koche ich mir mißmutig einen Espresso. Meine Laune ist miserabel und es gibt eine Gewissheit – der Tag wird eine elende Strapaze. 

Ich überlege, was ich dringend erledigen muss. Einige E-Mails absetzen – fehlerfrei – und einige Texte Korrektur lesen. Meine Vorahnung, bald zittrig zu werden, bestätigt sich. Ich trinke einen kleinen Wodka und versuche, ruhig zu werden. Ich arbeite weiter. Mir geht’s schlecht, kann mich schlecht konzentrieren und schweife ständig ab. Ich reiße mich zusammen und arbeite weiter. Dann trinke ich nochmal einen Shot, den vorletzten, den ich im Haus habe. Die wichtigsten Jobsachen sind erledigt und ich muss einkaufen gehen. Duschen auch noch. Trinke den letzten Wodka, fahre mit dem Fahrrad zum nächsten Laden und anschließend zu einem Kiosk und kaufe Bier. So schnell wie möglich flüchte ich wieder nach Hause und trinke erstmal ein Bier. Mir ist flau. Trinke aber weiter. Leider muss ich nochmal Nachschub kaufen. Muss an den nächsten Tag denken. Fahre zu einem anderen Kiosk und kaufe Bier und Wodka. Ich trinke noch ein Bier und einen größeren (0,1 l) Wodka. Ich lege mich auf den Teppich. Döse ein, wache auf und weine. Mir ist kalt. Ich bin verzweifelt und erschossen. Komm nicht mehr richtig hoch und lege mich ins Bett. Ich döse nochmal ein, wache auf und gucke halbherzig eine Serie. Verstehe nicht besonders viel. Der Tag ist gelaufen.

SUCHTLEBENSLÄUFE

Rita, 55, alkoholunabhängig

Music was my first love and it will be my last?
Landleben

Ich werde am 1.3.1967 in Mühlen geboren, ein Dorf mit mehr Pferden als Menschen im sog. Südoldenburger Münsterland. Katholisch, konservativ, traditionell und in den 60er Jahren noch feudal geprägt, vor allem unsere Bauernschaft. Hier gibt es die Bauern und ihre sog. Heuerleute, die bis in die 50er Jahre noch für Kost und Logis geknechtet haben. Hierzu gehörten auch meine Eltern und meine Oma (Mutter väterlicherseits).

Meine Mutter, Jahrgang 25, hat den Krieg als Heranwachsende bewusst erlebt, ihr Elternhaus wurde noch nach Kriegsende ausgebombt, alles sinnlos zerstört. Die Schmach, in einer Baracke aufzuwachsen, hat sie nie überwunden. Ihre Feinsinnigkeit und Intelligenz, ihre Sensibilität und ihr Wissensdurst wurden im Keim erstickt, es blieben Angst, Unsicherheit, ein minimales Selbstwertgefühl und eine große Portion Fatalismus. Hierunter hat sie Zeit ihres Lebens gelitten, kraftlos, ohnmächtig, mutlos gegen die Dominanz und Gnadenlosigkeit meiner Oma und ihrem Clan. Psychische Krankheiten waren Tabu. Schande und Sünde zugleich. Ihre einzige Strategie: WEG SEIN, körperlich durch viele Tätigkeiten, die den kargen Lohn meines Vaters aufbesserten. Sie war aber auch immer wieder geistig/seelisch weg:  im abgedunkelten Schlafzimmer oder in „Kuren“ (Klartext: Psychiatrie, Diagnose Endogene Depression). Als Kind für mich ein Horrorszenario, weil ich nicht wusste, wo meine Mutter war und warum sie weg war. Alle saßen nur mit versteinerter Miene am Küchentisch, die Verwandten väterlicherseits lästerten. Es gibt ein Foto, das meine Mutter in der „Kur“ zeigt, eines der wenigen Fotos, auf dem sie fast entspannt lächelt.

Aber ich fühlte mich auch sehr eng mit meiner Mutter verbunden. Als Teenie haben wir manchmal zusammen wie Freundinnen Teatime gemacht in meinem kleinen Zimmer. Für sie war ich der Sinn des Lebens, sehnlichst gewünscht, aber leider auch dringend gebraucht. Von ihr habe ich wohl meine Intelligenz und mein geistiges Streben. Sie war die Finanzministerin im Haus. Manchmal denke ich, ich habe ihr Wunschleben gelebt.

Alkohol war für sie nie ein Thema, bis zu ihrem Tod im Alter von 80 hat sie höchstens insgesamt 2 Flaschen Wein getrunken und ganz spät kurz vor ihrem Tod mit mir Champagner.

Mein Vater, Jahrgang 29, war der Hahn im Korb, sowohl bei uns, als auch in seiner Kindheit. Als einziger Sohn unter 4 Schwestern blieb er im elterlichen Haus mit seiner Mutter als Hausherrin. Auch er hat den Krieg miterlebt, mit 16 Jahren musste er noch zur Munitionsfabrik und Stacheldraht ziehen für den „Endkampf“. Seine Kriegsgeschichten waren immer irgendwie komisch. Wie Schabernackstreiche. Überhaupt konnte mein Vater – wenn er wollte oder die Gelegenheit hatte – tolle komische Geschichte erzählen. Leider kam es eher selten vor.

Nach seiner Schusterlehre (noch in der Kriegszeit) begann er nach dem Krieg in einem nahegelegenen Kieswerk als Baggerfahrer zu arbeiten. Ich erinnere mich noch an das Geruchspotpourri am Abend aus Leder, Zigarettenrauch, Bier und manchmal auch Schnaps. Er ging regelmäßig nach der Arbeit für Bier und Korn in die Dorfkneipe. An sich war er immer lustig dann, aber manchmal hieß es „Achtung, Papa hat „dullen (plattdeutsch für „bösen“) Schnaps“ getrunken. Dann wurde er auch mal ungehalten und laut, vor allem seiner Mutter gegenüber, leider zu spät für eine Rebellion. Die Leidenschaft meines Vaters war ganz klar das Saxofon. Schon als junger Mann hatte er damit autodidaktisch begonnen, war Gründungsmitglied der Dorfkapelle, hat vor meiner Geburt jedes Wochenende Tanzmusik gespielt auf Hochzeiten und Festen. Hierzu gab es auch immer super witzige Geschichten, die ich immer wieder hören wollte. Dass bei diesen Auftritten viel gesoffen wurde, ist klar. Die Musiker bekamen kaum Gage, dafür all you can drink and eat. Es gibt ein altes Foto, das ich schon als Kind bewunderte: Mein Papa mit einer Glenn Miller Brille, Saxofon, Motorrad. Sehr cool! Nach meiner Geburt hat er dieses Hobby an den Nagel gehängt, meine Mutter wollte das so, sicher zu seinem Leidwesen. Körperliche Zuwendung und persönliche Gespräche habe ich von meinem Vater (aber auch Mutter und Oma) nie erfahren, so waren aber die Generationen erzogen. Wenn ich später aus Berlin zu Besuch kam und  ihn umarmen wollte, war es immer eine ziemlich steife Angelegenheit und für ihn sichtlich peinlich. Er zeigte mir aber seine Aufmerksamkeit auf anderem Wege: liebevoll geschälte Apfelschnitze, nur mit mir geteiltes Knochenmark, extra fein geschnittene Zwiebeln für mein heiß geliebtes Tomatenbrot, die beste Neubesohlung meiner Schuhe bis zu seinem Tod und natürlich das Zusammensein im Dorforchester.

Auftritt Oma, Jahrgang 1906, 13 Geschwister, gottesfürchtig, streng katholisch, sie kennt keine Probleme, nur Lösungen, sie ackert unermüdlich im Haus und Garten bis ins hohe Alter, ist eine Respektsperson im Dorf. Für meine Mutter war sie der personifizierte Horror, für mich meine Ersatz-Mutter, denn sie hielt im Haus die Stellung, passte auf mich auf. Ich war auch ihr Lieblingsenkelkind (und sie hatte sehr viele). Mittags bei Tisch allerdings bekam meine Mutter immer zu hören, was ich alles mal wieder angestellt hatte, im wesentlichen waren das aber nur WiesoWeshalbWarum Fragen, motiviert von der kindlichen Lust, die Welt zu entdecken. So lernte ich schon sehr früh, mich und meine Bedürfnisse einzuschränken und zu eliminieren, denn alles wurde meiner Mutter vorgeworfen. Andere zu schützen wird zum Lebensmotto.

Ich habe auch schöne Erinnerung an meine Kindheit mit Oma: das gemütliche gemeinsame Frühstück nach der Frühmesse, ich half ihr beim Bohnenschnippeln, Erbsen döppen und fand es sehr entspannend, sie einfach nur stricken zu sehen. Die Kinder der Nachbarschaft liebten meine Oma, es gab immer Zuckerplätzchen. Meine Oma trank zeit ihres Lebens um 11:00 einen Schnaps, meistens mit dem Postboten (Alkoholiker) und ganz selten an besonderen Feiertagen 1/2 Glas süßen Sekt.

Rückblickend bin ich für sehr vieles dankbar. Für mich als Kind gab es viele Freiheiten beim Spielen, es gab eine klare Struktur, Verbindlichkeit und Pünktlichkeit. Bescheidenheit und Demut. Auch in meiner Jugendzeit waren meine Eltern sehr tolerant, sie brachten mich zu Parties und holten mich nachts ab (obwohl sie normalerweise früh ins Bett gingen), egal wie verrückt mein Aussehen oder meine Pläne waren, wie untypisch ich war, sie haben alles ihnen mögliche getan, um mich zu unterstützen und immer zu mir gestanden. Nur meine Oma hoffte bis zum Schluss, dass ich zurück komme, den Postboten heirate und Kinder kriege.

Jetzt zu mir:

Meine Mutter ist zur Zeit meiner Geburt bereits 42 Jahre. Es gab noch ein Baby (Bruder), das ca. 1 Jahr vor mir geboren wurde und ca. 6 Wochen nach der Geburt verstarb. Genaueres habe ich nicht erfahren. Nur den Namen: Hubert. Ein Trauma für meine Mutter, das sie Zeit ihres Lebens quälte und auch meine Geburt überschattet. Zudem starb kurz vor meiner Geburt noch ihr Vater, den sie wohl sehr liebte. Entsprechend gedrückt und düster war die Stimmung, in die ich hinein geboren wurde. Willkommen bin ich gefühlt nicht. Ich bin und blieb Einzelkind, zu meinem Leidwesen, ein starker Bruder wäre hilfreich gewesen aus meiner kindlichen Sicht. Geredet wurde ja so gut wie gar nicht miteinander, nur das nötigste und Kinder waren ohnehin traditionell keine ernstzunehmenden Gesprächspartner. Manchmal frage ich mich, wie ich überhaupt sprechen gelernt habe, bei all dem Schweigen. Mit 4 Jahren packe ich einen kleinen Koffer und plane, mein Elternhaus zu verlassen, ich bin fest davon überzeugt, dass ich nicht hierhin gehöre.

Aber das gab es auch: Abenteuer Landleben, Rumtollen ohne elterliche Kontrolle, einzige und wichtigste Regel war die Pünktlichkeit zu den Mahlzeiten, endlose Sommer im Freibad, Hilfe bei der Ernte, auf den Stoppelfeldern, Drachen steigen lassen, mit dem Schlitten hinter dem Traktor Schlangenlinien fahren, Kühe treiben, Kälber füttern, Erdbeeren, Himbeeren, Äpfel direkt aus dem Garten, Kasperltheater, Ritterburgen, Dachbodenexkursionen. Später dann Pfadfindergruppe, Kinderchor, Ferienlager. Das war die prägende unbeschwerte Seite meiner Kindheit auf dem Land.

Mit 12 komme ich in eine Mobbingsituation: Eine Mädchenclique schließt mich aus, weil ich „zu dick“ bin. Ich bin fassungslos und isoliere mich einen ganzen Sommer lang. Das war wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Mein ohnehin angeschlagenes Selbstwertgefühl sinkt gen 0 und schlägt in Selbsthass um. Gruppen, insbesondere Mädchencliquen sind jetzt für mich angstbehaftet, die Lektion ist tief verinnerlicht und führt nur kurze Zeit später zu meinem ersten süchtigen Lebensabschnitt, der Magersucht, mit der ich mich systematisch versuche auszulöschen und mich in ein Nichts aufzulösen.

Music was my first love!

Trompete möchte ich lernen, ist aber nix für Mädchen, sagt mein Vater. Ausgerechnet er, der Musiker, das ist enttäuschend. Ich wähle Querflöte. Diese wird die nächsten 25 Jahre mein Rettungsanker. Ich lerne in großen Schritten und bin unermüdlich und auch unersättlich. Gerade erst beherrsche ich ein paar Griffe, bitte ich meinen Vater, mit mir im Duett zu spielen. Das war – auch heute in der Erinnerung – der schönste Moment in meiner Beziehung mit meinem Vater. Gesprochen haben wir nicht, aber wir haben kommuniziert. Die Musik ist meine Welt, ich übe und übe, alles andere wird für mich zweitrangig. In der Welt der Musik fühle ich mich zugehörig, verstanden, gefördert, anerkannt, später dann auf der Bühne gehört und gesehen. Ich bin im Dorf ein Novum mit meinem Instrument, ich bekomme Auftritte, bin das erste Mädchen in der hiesigen Dorfkapelle, ich bin stolz und meine Eltern auch, sagen und zeigen es aber nicht. Aber ich hatte ja gelernt, ihre Zeichen zu deuten. Auch dies fatal, denn ich nehme Gruppen und Menschen fast nur noch interpretierend war. Das geht meistens schlecht aus für mich und mein Selbstbewusstsein.

Ich distanziere mich von meinem Elternhaus. Die Welt der klassischen Musik, der Bildung, steht für mich zu der Zeit  in unüberbrückbarem Kontrast zur Lebensweise meiner Eltern und Oma. Eine Haltung, für die ich mich später im Erwachsenenleben schäme. Ich will in ein Internat, ich will die Schule wechseln und dort vor Ort leben, ich will einfach nur weg und finde alles zum Kotzen (Bulimie).

Die dörfliche Enge, die katholische Doppelmoral in Gestalt Kollekte einsammelnder Männer, die am Wochenende in den Puff gehen (weiß ja jeder), die Tante, die mit blauen Flecken an der gemütlichen Kaffeetafel sitzt (häusliche Gewalt, sieht das keiner?), die Macht der Gülle-Bauern und Hühnerbarone auf die sogar der SPIEGEL 1984 mit der Titelseite „und ewig stinken die Felder“ aufmerksam wird. Ich wusste es: alles SCHEISSE!

Alkohol spielt in dieser Zeit keine große Rolle, die Musik schützt mich, denn alkoholisiert kann ich  meinen musikalischen Ansprüchen nicht gerecht werden. Meine Gedanken sind komplett fokussiert auf Musik. Allerdings gibt es hin und wieder Landfeste, wo ich mich mit Hilfe des Alkohols frei fühle von der Angst vor den anderen. Beschwipst traue ich mich, auf die anderen zuzugehen, der Schwips schenkt mir das Gefühl von Selbstvertrauen, macht mich frech, witzig und verwegen. Eine teuflische Lektion für später. So lebe ich in 2 Welten: die Welt der Musik, die mich glücklich macht und die andere Welt, der ich mich zunehmend entziehe. Aus der Klassenbesten wird mit der Zeit eine Verweigerin. Ich schwänze, quäle meinen Körper, meine Mutter leidet, meine Oma kocht mir einen starken Kaffee, wenn ich mal wieder vor Schwäche kollabiert bin und wahrscheinlich gedenkt sie meiner auch im allabendlichen Rosenkranz. Externe Hilfe (Therapeuten) gibt es nicht, schon faktisch nicht, aber Psychokram ist ja ohnehin entweder Sünde oder Schande. Meine Wahrheit habe ich dann aber doch meiner Mutter später mal ins Gesicht geschrieen: … weil du NIE da bist. Ein Wimpernschlag später möchte ich diesen Ausbruch gleich wieder auslöschen, um meiner Mutter zu schonen.

In der Zeit bis zu meinem Abitur ist Mr. Alkohol ein Begleiter an Wochenenden, die ich mega cool in einer berühmt berüchtigten Punk und Wave Dorf Diskothek verbrachte. Hier wurden viele, auch harte Drogen konsumiert. Ich fand Kiffen stinklangweilig und die härteren Drogen – insbesondere Heroin kursierte damals – einfach ekelig. Ich  blieb bei meinem Sabbelwasser und machte mich weitaus kontaktfreudiger, als ich mich wirklich fühlte. Mein mittelmäßiges Abitur schaffte ich mit dem Sondertitel „Meisterin im Schwänzen“, doch schon vorher habe ich meine Koffer gepackt: ich gehe 1987 nach Berlin! Ende der Magersucht Symptome.

Sex und Weizenbier und Bach

Wer nachrechnet, erkennt in meinem Lebenslauf eine Semesteranzahl von 20. Ich war also insgesamt 10 Jahre als Studentin der Musikwissenschaft und Linguistik eingeschrieben. Zu Anfang noch brav studierend, habe ich mich dann zunehmend abgelenkt: ich habe gejobbt (teure Miete wenig Bafög), die Unis gewechselt, nebenher noch privat Musik studiert, Kirchenmusik gemacht. Im Nachtleben war das Berlin der 20 Jahre Inspiration: ich trug Krawatte, asymmetrischen Haarschnitt, rauchte Zigaretten mit Spitze und war auch sonst sehr verwegen. Viel getrunken habe ich aber nicht in diesen Nächten, denn ich war sparsam (Elternlektion). Und eben: die Musik auch hier eine gesunde Gegenwelt. Dazu noch exzessive Lektüre, Stapel von Büchern neben meinem Bett, so konnte ich tagelang alleine zufrieden sein. Alkohol: ausgeschlossen, dann kann ich nicht mehr lesen.

Lover hier Lover da. Es fühlte sich richtig an. Auch rückblickend würde ich mich definitiv nicht als sexsüchtig sehen, denn ich habe meine Bedürfnisse ausgelebt und ausgedrückt und Berlin bot mir endlich den dazu passenden moralischen Rahmen. Für mich waren Affären Geschichten: Kurzgeschichten, manche mit Potential für einen Roman, komisch, thrillig, stinklangweilig, trashig, romantisch. Der Alkohol aber war immer dabei, wir waren immer zu Dritt im Bett. Neben diesen Eskapaden hatte ich insgesamt 3 längere Beziehungen (zw. 3 und 10 Jahren). In 2 von 3en war ich in einer Co-abhängigen Beziehung. Hier ist eine davon.

The grateful Dead

M. war wie ich am Institut für Semiotik, er war dort einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter. Ich bewunderte ihn wegen seines messerscharfen Verstandes, er war geistig sehr dominant und verfügte über eine eigene sensationelle Bibliothek von über 3000 Büchern, darunter bibliophile Kleinode. Für mich das intellektuelle Paradies. Wir haben viel diskutiert, bzw. eigentlich hat er doziert und ich habs aufgesogen. Oftmals haben wir ganze Tage in Kneipen und Cafés verbracht, sinnierend, besser wissend. Erst zu spät erkannte ich, dass neben dem Alkohol, dem ständigen Kiffkonsum auch harte Drogen in seinem Leben eine Rolle spielten. Als Landpomeranze weiß ich bis heute nicht, was alles. Auf alle Fälle waren dann auch irgendwann Heroin und Opiate dabei, er lebte vielleicht nach seinem Vorbild Baudelaire. Mich ekelte das an, sein diesbezügliches soziales Umfeld hasste ich und hielt mich fern. Er zog dann zu mir, wahrscheinlich, um die gesparten Mietkosten in Drogen zu investieren. Außerdem betrog er mich ständig beim Verkauf von irgendwelchen Bücher. Erstausgaben, die er mir aufnötigt. Und er trieb durch das Rotlichtmilieu bei Nacht und Drogennebel.

Mit Hilfe einer Gesprächstherapie verlasse ich MEINE Wohnung. Da wir ohnehin schon längst auf der Hänsel- und Gretelebene waren, fiel die Trennung wenig schmerzhaft aus. Der angestrebte gemeinsame Studienabschluss verband uns sogar wieder mehr und wir unterstützten uns bei den Vorbereitungen. In dieser Uni-Abschlussphase hat M. m.W. keine harten Drogen konsumiert, hatte allerdings von seiner Dealern in Weiß (Ärztin) Methadon bekommen. Um so traumatisierender das Ende. Am 5.12. 1997 erreiche ich Martin telefonisch nicht, obwohl wir verabredet waren. Das war ungewöhnlich. Ich habe komische Ahnungen. fahre zu ihm, klingel etc. fahre wieder heim. Die Ahnungen werden unerträglich, am nächsten Tag klettere ich über das Außenwandgerüst, das zufällig dort war, zum 3. Stock über den Balkon. M. sitzt tot in seinem geliebten Sessel (von mir geschenkt). Noch heute sehe ich alles in Zeitlupe und wie durch ein Brennglas. Ich schrei das erste und lauteste NEIN meines Lebens.

Weihnachten zu Hause war der Suizid bzw. der Drogentod (Ursache unklar) ein Tabuthema.

Es klingt paradox, aber ich stieg nach einer sehr kurzen Zeit wie Phönix aus der Asche. Ich war voller Wut auf dieses elende Ende. Wütend bin ich sogar bis heute noch. Greatful Dead? Nein: Scheiß Abgang.

Diese Wut hatte eine große Kraft: ich beendete  mein Studium mit einer Top Note, als müsste ich sein intellektuelles Erbe antreten. Packte Magisterarbeit und alles drumherum in eine Tasche und schloss alles weg. Das Rauchen gab ich ebenfalls 1999 für 20 Jahre auf. Für meine berufliche Zukunft bekam ich Hilfe aus der gerade untergegangenen Welt. M.’s Stiefvater vermittelte mich an seine Freundin, die als Bundespolitikerin nach dem Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin eine neue persönliche Assistentin suchte. Ohne zu zögern bog ich quer vom bisherigen akademischen Weg ab. Neue Destination: Bundestag.

Das Hohe Haus

Von den insgesamt 20 Jahren im Arbeitsfeld Bundestag waren mind. 18 die spannendsten meines Lebens. Ich kam mir vor wie im TV: Prominente, schillernde Galaabende, in jeder Hinsicht eine Spielwiese. Mein Selbstbewusstsein steigt exponentiell mit Berufserfahrung und Kontostand. Fake it till you make it. Das Label „Rita arbeitet im Bundestag“ lässt jetzt endlich auch die immer wiederkehrenden Fragen (Status Studium?, Mann?? Kinder???) im Keim ersticken. Ich erfinde mich hier neu, strebe nach oben. Ich bin beliebt und in meinem Tun geschätzt. Jetzt fließt der Alkohol! In den Sitzungswochen Abend für Abend. Am Wochenende Belohnung!! Ich sehe die Welt durch ein Champagnerglas.

Dann kommt wieder eine Zeit des Abschiedes. Mein Vater stirbt 2005 plötzlich, aber nicht unerwartet an meinem Geburtstag. Ich breche am Grab fast zusammen, mir wird schlagartig bewusst, dass ab jetzt noch viele Abschiede auf mich zukommen und meiner Kinderalbtraum wahr wird. 2006 folgt dann meine Mutter meinem Vater ins Grab. Nach dem Tod meines Vaters kam sie recht schnell über die Psychiatrie in ein Altersheim. Ich kämpfte wie eine Löwin um das beste Einzelzimmer mit Blick auf See, fuhr jedes Wochenende zu ihr (jedes Wochenende 800 km). Sie wurde rasant schnell dement. Sie war nur noch ein zerrupftes Vögelchen, verweigerte jegliche Nahrung, ich musste aus der Ferne eine entsetzliche Entscheidung fällen, künstliche Ernährung ja/nein. Wenn ich Essen mitbrachte, das sie aus meiner Hand annahm und ich Champagner in ihre Schnabeltasse goss, war sie für Momente bei mir. Sie wollte gehen (zu ihrem Mann) und ich habe es zerrissenen Herzens akzeptiert. Als sie im Sterben liegt, wartet sie solange, bis ich aus Berlin vor Ort bin. Ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie mir diese letzten gemeinsamen Minuten geschenkt hat. Und mir gezeigt hat, dass Sterben ein einziges großes befreiendes Ausatmen sein kann.

Das elterliche Haus vermiete ich, denn meine Oma hat dort noch lebenslanges Wohnrecht. Sie lebt mittlerweile bei ihrer Tochter, die sie bis zu ihrem Tod im Alter von 104,5 liebevoll aufnimmt. Bis kurz vor ihrem Tod war sie top fit, weder dement noch im medizinischen Sinne ein Pflegefall. Ich besuche sie auch über die Jahre noch regelmäßig. Meine Ersatz-Mutter stirbt am 5.12.2009.

Just the two of us …

Aus einem ziemlich komplexen Geflecht von Affären, wo ich in der Regel als Geliebte mir die Rosinen des Lebens rauspicke und das „für mich sein“ am Wochenende genieße, kristallisiert sich eine Liebesbeziehung heraus, die noch heute und hoffentlich bis in alle Ewigkeit Gültigkeit hat. Mit P. lerne ich La dolce Vita. Jeder Tag ist Weihnachten. P. ist ein Bonvivant, um ihn herum immer illustre Gesellschaft. Ich bin seine Geliebte. Für mich ist der Deal ok, von meiner Seite gibt es auch trotz wachsender Zuneigung keinen Druck oder Wunsch, dieses unseres gemeinsames Leben zu ändern. Der Alkohol ist ein wesentlicher Teil meines gesellschaftlichen Lebens und er ist bereits feste Gewohnheit.

Dass die Suchtampel auf gelb steht, sehe ich nicht, denn ich weiß nicht um ihre Funktion. Rückblickend erkenne ich ganz klar, wie der Alkohol in prickelnder rosafarbener Gestalt immer stärker Raum greift. Sein Trick uralt: scheinbar bestärkt er mich, macht mich selbstbewusst und mutig, geistreich, er aktiviert mich und lässt mich lebendig fühlen. Warum ich in dieser so erfolgreichen und lebensfrohen Lebensphase immer noch nicht selber an mich glauben konnte, erschließt sich mir bis heute nicht.

Zwischenzeitlich bin ich umgezogen in eine wunderbare Dachgeschosswohnung, die ich später dann kaufe. Ich bin unendlich stolz auf diese meine Lebensleistung. Ich bin jetzt komplett finanziell unabhängig bis in alle Ewigkeit. Für das Schöne/Ästhetische ist P. zuständig (ich wäre für  vieles auch viel zu sparsam oder geizig gewesen). So entsteht auch für uns ein wunderschöner privater Ort, an dem wir immer häufiger gemeinsam Zeit verbringen.

Die Jahre gehen ins Land. Die Faszination Bundestag erblasst, Opposition ist Mist, tagespolitische Hektik gepaart mit Langeweile in den sitzungsfreien Wochen empfinde ich immer stärker als Ballast. Hinzu kommt die unglaubliche Beschleunigung durch die sozialen Medien: Der redundante Informationsaustausch auf  allen Kanälen erschöpft mich, später in den letzten 2 Jahren kommen noch kräftezehrend Hatespeech der Wutbürger und die rechten Parteien dazu.

5 Wahlkämpfe werden auch irgendwann langweilig. Ein großes Gefühl von Sinnlosigkeit bestimmt meinen Arbeitsalltag. In manchen Momenten registriere ich, dass ich mich abfülle anstatt nach Erfüllung zu suchen auf anderen beruflichen Wegen. Weit entfernt aber die Reißleine, denn ich sehe den Alkohol immer noch als rechtmäßigen Genuss und kann mir eine Leben ohne ihn nicht vorstellen.

… we can make it if we try, just the two of us. You and I.

Im Frühjahr 2018 ziehe ich mit P. zusammen in eine Traumwohnung raus an den grünen Stadtrand, raus ans Wasser. Das war immer mein Traum. Dennoch habe ich mich sehr schweren Herzen von meiner eigenen Wohnung verabschiedet, so glücklich war ich dort und fühlte mich auch allein rundum wohl (natürlich auch mit Alkohol). Doch die Liebe ist stärker und ich möchte Bett und Tisch und Alltag teilen. Ich unterschätze komplett die Herausforderung für mich. 30 Jahre habe ich immer alleine gewohnt, diese Seite der Beziehung ist für mich neu und ich habe nicht gelernt, Freiraum für mich zu definieren. Im Mai 2019 erreicht mein beruflicher Burn Out den Höhepunkt. Nach einer massiven Panikattacke kann ich eines Morgens das Haus nicht mehr verlassen. Ich melde mich krank aus erfundenen Gründen, rede aber 2 Tage später mit meiner Chefin Tacheles  und erkläre mich auch unserem  Team. Ein Durchbruch! Verständnis, Wohlwollen, große Erleichterung. Nun habe ich auch den Mut, es ALLEN zu erzählen. Und ich hätte es auch allen erzählt, die es nicht interessiert. Ich gehe Ende Juni 2019 in eine qualifizierte Entgiftung und komme im Trockenrausch raus. Das berufliche Glück kommt hinzu. Ich brauche nicht zu kündigen, meine Chefin legt im Oktober ihr Mandat nieder, betriebsbedingte Kündigung. Nach 20 Jahren Bundestag bekomme ich für 9 Monate eine beträchtliche Abfindung. Ich will diese Zeit nutzen für eine Neubestimmung. Ich habe das Geld, aber überhaupt keinen Plan. Und vor allem immer noch kein tiefergehendes Verständnis dafür, was Suchterkrankung wirklich bedeutet.

Final Countdown

Im Dezember fahre ich alleine zu eine Detoxkur nach Wien. 6 Monate habe ich problemlos keinen einzigen Tropfen Alkohol angerührt. Und auch fast nie daran gedacht. Dachte ich. Schon im Flieger trinke ich mein erstes Glas pisswarmes Sekt aus dem Plastikbecher. Das war der Initialtrunk für die Zeit bis März 2021 als heimliche Trinkerin.

Aus Scham, Trotz, Langeweile und dem Gefühl nutzlos zu sein (Corona ist z.T. nur ein Alibi) trinke ich auf Pegel und zwar gleich im Stehen wie in Trance vormittags, Sekt oder Wein. Ich habe in P.’s Abwesenheit vormittags nur ein kurzes Zeitfenster, was ich suchtlogisch effizient nutze. Hin und wieder, wenn mir P.’s Rückkehr mir zu früh erscheint, schicke ich ihn los noch irgendwas zu besorgen auf dem Rückweg. Ich brauche die Dinge nicht! Nur die Zeit!! Was für ein beschämender Missbrauch seiner Großzügigkeit. Ungezählte Lügen häufen sich zu einem gigantischen Schuldberg. Haben wir Besuch, halte ich die abstinente Fassade aufrecht und gehe häufig rauchen (niemand außer mir raucht, Alkoholdepots wie Brotkrumen für Gretel überall auf dem Weg) und Zähne putzen. Meine Trinkerei wird immer häufiger ein Streitthema. P. sorgt sich, ist wütend, fügt sich ohnmächtig und ich ziehe mich passiv aggressiv zurück. Ich kann und will mich nicht lösen von der Idee des Dolce Vita, das Gefühl von Verzicht quält mich, ein Leben ohne Champagner erscheint mir trist und grau. Es kommt mehrfach zum Eklat mit P., aber erst ein völlig versoffenes Telefonat mit meiner Suchtberaterin bringt mich zur Besinnung:  STOP!!!

Ich hatte mich schon vorher mit kontrolliertem Trinken und allen sonst verfügbaren Exitstrategien beschäftigt. In einer Dokumentation über Alkohol, die ich normalerweise sofort ausschalte, höre ich zum ersten Mal von der Sobriety Bewegung, unter anderem die Bewegung um Annie Grace. Das könnte ein Weg werden. Es geht nicht darum, das „alle trinken können ohne süchtig zu werden, nur die dumme schwache Rita nicht“, sondern es geht um den bewussten Entschluss, mit dem Aufhören aufzuhören. Es ist der paradoxe Weg. Damit kann ich mich intuitiv identifizieren und ich unterschreibe den Antrag für die Rentenversicherung (der schon seit Juli 2019 bei mir liegt) und leite alles in die Wege. Am 13.3. unterzeichne ich einen selbstgeschriebenen Vertrag mit mir, dass ich mich für ein abstinentes Leben entschließe und der gezuckerte Ethanol keine Bedeutung mehr hat in meinem Leben. So habe ich es auch mit dem Nikotin 1999 gemacht, für 20 Jahre war der Vertrag gültig. Ich arbeite mit inneren Bilder und Autosuggestionen. Ich fokussiere mich mit Yoga. Bis zu meinem Rehabeginn am 5. Mai 2021 erfinde  ich noch 101 Gründe, warum ich zu Hause bleiben kann. Ich bekomme Atemnot, Heimweh nach meinem Paradies schon vor Abreise und ein letztes Aufbäumen einer gescheiterten Strategie, es alleine schon zu schaffen. Aber den Fehler von 2019 mache ich kein zweites Mal. Am 5. Mai 2021 fahre ich in eine Suchtklinik für 8 Wochen.

Rückblickend sehe ich nun dankbar, über wie viele Ressourcen und Kräfte ich bereits verfügte und auch immer angewendet habe: meine Musik und die Welt der Literatur haben mich über lange Strecken geschützt, auch Sport und die Meditation waren immer schon verankert. Abstinent zu werden war der erste Schritt auf einen Weg der jetzt klar vor mir liegt.

Train it till you became it. Hierfür habe ich nun Raum und Zeit. Ich bin soweit, Ich zu werden.

BRIEFE

Rita, 55, alkoholunabhängig

„Cause I’m strong enough to live without you“
Liebe Alkoholika!

Du hast mich getröstet, mit Fantasie erfüllt, mutig gemacht, mich begehrenswert fühlen lassen. Du hast mich gestärkt, wenn ich mich schwach fühlte, du warst da, wenn ich einsam war. Du hast mich beschützt, wenn ich Angst hatte vor den anderen. Mich ermutigt, cool zu bleiben. Fühlte ich mich bleiern, hast du mich erleichtert, das Schwere von mir genommen. Du hast alles entschuldigt. Später dann, erschienst du mir als das perfekte rosa sprudelnde prickelnde Abbild von ‚La dolce vita‘. Du hast mich zu Candlelight-Dinners begleitet, die Menüabfolge perfekt gemacht, die Welt filmreif erscheinen lassen und mich als ‚Belle de Jour‘ mittendrin. Du warst immer und überall dabei. Auch beim Sex. In der Hitze des Sommers und an winterkuscheligen Tagen. In guten und in schlechten Zeiten. Und das, seit ich Teenie bin, jetzt bin in 54 Jahre. Wir waren also fast das ganze Leben zusammen. Was für eine Freundschaft!
Glaubte ich.

Klar und nüchtern betrachtet ist aber alles Lug und Trug!
Du bist eine notorische Lügnerin, eine Gefühlsschwindlerin, eine emotionale Klette. Du hast mich komplett verarscht und mir Tag für Tag vorgegaukelt, jemand anderes zu sein. Du nimmst mir mein Geld und meine Lebensenergie, meinen Stolz und meine Ehre. Nichts, was du mich glauben machst, stimmt. Du verursachst Übelkeit, körperliche und seelische Schmerzen, du zwingst mich zu lügen und treibst mich in tiefe Schuldgefühle. Du zerstörst mein Leben und das derer, die mich lieben. Du hast mich krank gemacht. Du bist ein Ethanol-Monster, ein Zombie, das meinen Körper, meinen Geist und meine Seele frisst. Alptraumhaft, brutal, ekelhaft, lebensgefährlich.

So sieht’s nämlich wirklich aus!  Also:  shut your dirty face and fuck off!!

„Cause I’m strong enough
to live without
strong enough
and I quit crying
strong enough
now I’m strong enough
to know
you gotta go
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